Globalisierung gerecht gestalten

Gastpredigt von Josef Göppel am 31. August 2003 in der Ansbacher Gumbertuskirche

Die Verlockung

Eine Verheißung zieht über den Erdball: Eines Tages werden alle Menschen wohlhabend und glücklich sein. Wie kann das gehen? Alle Grenzen sollen fallen, Güter und Dienstleistungen sollen nur noch dort hergestellt werden, wo sie am günstigsten zu erbringen sind. Dadurch wird alles billiger. Der Welthandel bringt die Segnungen des Fortschritts bis in die hintersten Winkel der Erde. Wirtschaftswissenschaftler sagen, man müsse die Wirtschaft nur laufen lassen und staatliche Eingriffe zurück drängen, dann stelle sich dieser Zustand bald ein. Bis dahin müssten aber noch schwere Opfer gebracht werden, wie Senkung des Lohnniveaus, Abbau von Sozialleistungen und Beseitigung unproduktiver regionaler Versorgungsstrukturen.
Wer das vertritt? Die Anhänger des neoliberalen Wirtschaftsmodells. Ihre Stichworte heißen Deregulierung, Liberalisierung, Privatisierung und Flexibilisierung. Seit dem Ende des Kommunismus um 1990 hat sich das neoliberale Modell rasant als weltweite Wirtschaftsdoktrin ausgebreitet. Allmählich zeigen sich immer deutlicher verblüffende Parallelen zu den früheren Ideologien. Ferne Heilserwartung und Opfer auf dem Weg dorthin – das hat eindeutig ideologiehafte Züge. Spätestens hier sollten wir misstrauisch werden. Wo ist die Grenze zwischen notwendiger Entschlackung alter Strukturen und Aushöhlung der sozialen Marktwirtschaft?

Die Schattenseiten

Ein Jahrzehnt an Erfahrungen mit der Globalisierung lässt nun langsam deren Schattenseiten hervortreten: Weltweit steigende Arbeitslosigkeit, Absinken des Lebensstandards, Auszehrung der Mittelschicht, Armut der öffentlichen Haushalte und Anhäufung privaten Reichtums. Auch in den so genannten reichen Ländern nehmen die Wohlstandsunterschiede zu. Die neue Weltordnung nährt sich von billiger Arbeit und Ausbeutung der Umwelt. Das Kapital genießt schrankenlose Beweglichkeit. Es wandert auf der Suche nach niedrigeren Sozial- und Umweltstandards von einem Land zum andern. Menschen, die dem Reichtum nachwandern, werden mit scharfen Gesetzen im Zaum gehalten. Nach dem Unobericht zur Lage der Menschheit von 2002 wird die Kluft zwischen arm und reich immer größer. 1960 betrug das Verhältnis zwischen dem reichsten und ärmsten Fünftel der Weltbevölkerung noch 30 : 1; jetzt liegt es bei 70 : 1.
Die Globalisierung schießt über ihr Ziel hinaus. Sie vereinheitlicht die Welt. Evolution braucht aber Vielfalt. Bessere Lösungen entstehen am besten aus einer Vielfalt eigenständiger Herangehensweisen. Die Entwicklungsländer leiden zum Beispiel am meisten unter dem System der Lizenzvergabe. Multinationale Konzerne verkaufen Saatgut, das nur noch mit Dünger und Pflanzenschutzmittel der selben Firma Ertrag bringt. Traditionelle Industriebetriebe zur Versorgung lokaler Märkte werden mit Lizenzen zur Herstellung internationaler Massenartikel zunächst gelockt und dann im Preis gedrückt. Umgekehrt überschwemmen Erzeugnisse aus den Industrieländern lokale Märkte in den Entwicklungsländern und verdrängen dort das traditionelle Kleinunternehmertum. Internationales Großkapital zerstört regionales Kleinkapital. Das ist die Erfahrung der 90er Jahre. Wir sind Zeitzeugen einer neuen Kolonisierungswelle. Diesmal kolonisieren aber nicht Staaten, sondern Konzerne. Die Gewinner dieses Systems sind die globalen Finanzorganisationen, Öl und Energiekonzerne, der militärisch industrielle Komplex, Biotechkonzerne und Medienunternehmen.
Immer mächtiger ertönt deshalb der Ruf, den natürlichen Gütern dieser Erde einen gerechten Preis zu geben. Für sauberes Wasser, für Rohstoffe oder die genetische Vielfalt müsse den Herstellerländern ein gerechter Anteil bleiben. Ein typisches Beispiel: Ein Pharmakonzern entwickelt ein teueres Medikament aus einer tropischen Pflanze. Für den Rohstoff selbst hat er kaum etwas bezahlt. Diese Pflanzen findet man einfach und nimmt sie. Das fertige Medikament kommt dann zu sündhaft teueren Preisen in die Entwicklungsländer zurück.

Globalisierung und Demokratie

Der ungeregelte globalisierte Markt untergräbt darüber hinaus zunehmend die demokratische Kontrolle von Entscheidungen. Multinationale Konzerne erheben sich über die nationalen Rechtsnormen und spielen Staaten gegeneinander aus. Konzernführer lassen Ministerpräsidenten bei Standortentscheidungen zappeln – und kräftig zahlen. Weltweit agierende Unternehmen können ihre Interessen an den nationalen Regierungen vorbei durchsetzen. Der Satz eines entlassenen Arbeiters gegenüber einem deutschen Ministerpräsidenten macht das deutlich: „Sie habe ich gewählt, aber Sie haben keine Macht und diejenigen die die Macht haben kann ich nicht abwählen.“ Die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen nimmt den einzelnen Bürgern Mitwirkung und Einfluss. Wahlzettel und Bürgerentscheid greifen nicht mehr, wenn die Wasserversorgung oder das örtliche Altenheim von privaten Unternehmen betrieben werden. Alle Dienstleistungen, bei denen der einzelne Bürger keine echte Wahlmöglichkeit vor Ort hat und bei denen es somit keine Konkurrenz gibt, eignen sich eben nicht für eine Privatisierung.
Für die Menschen in dünn besiedelten ländlichen Räumen stellt sich das Problem noch schärfer. Die privatisierte Post, die Bahn und privatisierte soziale Dienste ziehen sich immer mehr aus den ländlichen Räumen zurück. Dort wird das Angebot immer schlechter. Die Lebensqualität der Menschen sinkt. Es ist höchste Zeit, die ideologiehaften Auswüchse der Privatisierung zu benennen. Gleichwertige Lebensbedingungen im ganzen Land, so wie es unsere Verfassung fordert, kann es nur mit klaren Rahmenbedingungen eines demokratisch aufgebauten Staatswesens geben. Die wirtschaftlichen Kräfte lassen das außer acht. Sie konzentrieren sich immer dort, wo die meisten Kunden sitzen.

Globalisierung und Staatsfinanzen

Die Finanzen der Staaten hat die Globalisierung in eine krasse Schieflage gebracht. Immer mehr Wertschöpfung entzieht sich der Besteuerung durch übernationale Verflechtungen. Gleichsam auf Stelzen steigen die multinationalen Konzerne über die Ländergrenzen hinweg und bilden ein eigenes Geflecht, auf das die territorial fest gebundenen Staaten keinen Einfluss mehr haben. Den Großteil der Steuerlast tragen so Arbeitnehmer und Mittelständler, die andererseits mit den kaum steuerlich belasteten Produkten der Multis konkurrieren müssen. Immer lauter ertönt deshalb der Ruf nach einer Steuerquelle, die der neuen Weltsituation Rechnung trägt. So wie für Waren und Dienstleistungen Mehrwertsteuer bezahlt werden muss, so sollen künftig auch die Kapitaltransaktionen an den Börsen zur Finanzierung der internationalen Entwicklungszusammenarbeit herangezogen werden.

Der Gegenentwurf

Es gibt eine Antwort auf die Frage nach dem optimalen Wirtschaftskonzept, die soziale Marktwirtschaft. Ludwig Erhard erkannte, dass sozialer Friede nur möglich ist, wenn die Erträge der Marktwirtschaft allen zugute kommen. Erhard war überzeugt, dass die Kräfte des Marktes Regeln brauchen, die sie begrenzen. Er warnte eindringlich vor „dem liberalistischen Freibeutertum“. Sein Konzept bescherte Deutschland das Wirtschaftswunder. Ende der 60er Jahre hatte unser Land eine weitgehend ausgeglichene Vermögensverteilung. Eine starke Mittelschicht und viele Kleinunternehmer. Alle lebten besser, weil dem Eigennutz zugunsten des Gemeinwohls Grenzen gesetzt waren. Nun drohen die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft auf dem Umweg über die Globalisierung hinweggespült zu werden. Wir Deutschen haben keinen Grund, im Ringen um die richtige Wirtschaftsordnung der Welt unser Licht unter den Scheffel zu stellen. Wir brauchen einen weltweiten Siegeszug der sozialen Marktwirtschaft und nicht ihren Rückzug! Wir brauchen klar definierte soziale, ökologische und kulturelle Standards innerhalb der Marktwirtschaft, aber nicht schrankenlosen Wettbewerb.
Nur die ökologisch weiter entwickelte soziale Marktwirtschaft ist in der Lage, die richtigen Weichenstellungen angesichts der weltweiten Klimaveränderungen vorzunehmen. Wie können wir mit 20 % des heutigen Energieverbrauchs gleich gut oder vielleicht sogar besser leben? Unser Planet verbrennt heute 5 mal mehr Ressourcen als die Atmosphäre nachhaltig verkraften kann. Nicht zurück in die Steinzeit muss die Parole heißen, sondern mit verfeinerter Technik Rohstoffe und Energie besser nutzen, dem Fortschritt eine neue Richtung geben.

Was kann ich selbst tun?

In allen Erdteilen bilden sich zur Zeit Regionalinitiativen, die ihre Art zu leben bewahren wollen gegen den Trend zur Einheitszivilisation in der Globalisierung. Die Menschen brauchen eine regionale Verwurzelung gerade im Zeitalter des Internets und der Überschallflugzeuge, damit sie nicht bindungslos werden.
Das Wichtigste ist, sich dieser Zusammenhänge bewusst zu werden, dann wird man automatisch zu Fragen kommen wie

  • kaufe ich möglichst regionale Lebensmittel ein?
  • ernähre ich mich im Rhythmus der Jahreszeiten?
  • Muss ich an Weihnachten frische Erdbeeren haben?
  • Wo verbringe ich meinen Urlaub?

Billigflüge sind für den Einzelnen schön, aber für das Gesamtwohl nicht zu verantworten.
Wie steht es mit dem Wasserverbrauch in Hotelswimmingpools, wenn ringsum alles verdorrt.
Wer verdient an einem solchen Massentourismus wirklich? Die meisten Hotelketten sind nicht im Besitz von Ein­heimischen, sondern von westlichen Kapitalgebern.
Schließlich die Frage: Wo lege ich mein Geld an?
Sind wir uns bewusst, dass wir mit unseren Fondsanlagen und Lebensversicherungen auch zu den anonymen Kapitalgebern gehören? Was geschieht mit dem von uns eingezahlten Geld?
Inzwischen bietet schon jede Sparkasse auch ethisch vertretbare Geldanlagen an. Man muss nur danach fragen.
Es geht immer darum, verantwortungsvoll mit den Gütern dieser Welt umzugehen. Das ist die besondere Pflicht von uns Christen. Wir glauben, dass wir eines Tages vor dem Schöpfer zu verantworten haben, wie wir mit den Talenten dieser Erde umgegangen sind. Darin liegt der innere Kompass für das richtige Verhalten in unserer Zeit des Umbruchs.