Unseren Alleen droht die Säge

Alleen gehören zum bayerischen Landschaftsbild.
Alleen gehören zum bayerischen Landschaftsbild, wie hier die B 2 bei Spatzenhausen zwischen Weilheim und Murnau.

Münchner Merkur, 05. März 2015

von Dirk Walter und Carina Lechner

Bayern will die Zahl der Verkehrstoten weiter senken. Doch das löbliche Ziel hat einen Schönheitsfehler: Die letzten Alleen Bayerns geraten in Gefahr. Umweltschützer sind alarmiert – und ein CSU-Abgeordneter macht Bundesverkehrsminister Dobrindt Dampf.

München – Als die Bauarbeiter im Herbst 2011 mit schwerem Gerät anrücken, um an der Bundesstraße 2 zwischen Spatzenhausen und Murnau 87 Bäume zu fällen, ist der Aufruhr groß. Beim örtlichen Bund Naturschutz läuft das Telefon heiß, auf den Leserbriefseiten unserer Zeitung gehen Gegner und Befürworter der Abholzaktion aufeinander los: „Die Säge schafft keine Sicherheit“, empören sich die einen. „Entrüstungsphantasien von Wutbürgern über zukünftig monströse Asphalttrassen sind angesichts des menschlichen Leids auf diesem Streckenabschnitt höchst deplatziert“, toben die anderen. Die Frage, die den Aufruhr auslöst: Was ist wichtiger – Naturschutz oder Verkehrssicherheit?

Debatten wie diese begleiten fast jeden größeren Motorsägen-Einsatz entlang von Landstraßen. Nun droht erneuter Kahlschlag, und zwar in ganz Bayern: Als Verkehrsminister Joachim Herrmann (CSU) neulich die jährliche Unfallstatistik für den Freistaat vorstellte, kündigte er an, die Zahl der Verkehrstoten weiter senken zu wollen. 619 Menschen starben im vorigen Jahr auf Bayerns Straßen, bis 2020 soll die Zahl auf unter 550 fallen. Ausgerechnet ein CSU-Bundestagsabgeordneter glaubt, dass das zu Lasten der Umwelt geht.

Josef Göppel, 64, war vor seiner politischen Karriere Förster. Als Umweltpolitiker ist der Franke in seiner Fraktion in einer Außenseiterstellung: Er ist Stuttgart 21-Gegner, Windkraft-Fan, und als es im Bundestag um die Verlängerung der Atomkraftwerk-Laufzeiten ging, stimmte er mit Nein. Und jetzt sieht Göppel am Horizont schon die Baumfällkolonnen der Straßenbauämter anrücken. Denn: Die letzten bayerischen Alleen zu opfern, sei der bequemste Weg, um die Unfallzahlen zu senken.

Göppel glaubt: Mit Abholzaktionen, so umstritten sie vor Ort jeweils sein mögen, handele man sich weit weniger Ärger ein als bei anderen Maßnahmen. Denkbar wären etwa stationäre Radarfallen, denen Göppel bei der Entschärfung von Gefahrenquellen „durchschlagenden Erfolg“ bescheinigt. Verkehrspsychologe Gerhard Laub vom TÜV Süd sagt, eine Beschilderung könne viel bewirken. Möglich wären, so Göppel, auch mehr Leitplanken entlang der Baumstraßen. Oder gar ein generelles Tempolimit auf Alleestraßen. Tempo 80 auf den Landstraßen? Seine CSU, seufzt der Abgeordnete aus Ansbach, „tut sich halt immer noch schwer mit Geschwindigkeits-Beschränkungen“. Und dann sagt Göppel noch Sätze, die im Autofahrerland Bayern fast ketzerisch wirken: Man müsse „weg von der Ideologie der allseits freien Fahrt“, weg vom Konzept einer „fehler-verzeihenden Straße“. Denn: „Die gibt es nicht.“

Fehler-verzeihende Straße? Das ist nicht Göppels Wortschöpfung, sondern astreines Bürokratendeutsch. Denn das Ausholzen und Neupflanzen von Bäumen entlang von Bundesstraßen ist in Deutschland streng geregelt. Die ESAB 2006, also die „Empfehlungen zum Schutz vor Unfällen mit Aufprall auf Bäumen“, sieht das Entfernen von Bäumen nach eingehender Einzelfallprüfung nur als letztes Mittel vor. Darüber entscheiden vor Ort, wie im Fall der Bundesstraße zwischen Spatzenhausen und Murnau im Jahr 2011, Kommissionen aus Landratsamt, Polizei und Bauamt. Naturschützer werden übrigens nicht geladen.

Die beobachten in ganz Bayern einen „Abholzwahn“: Vor allem im letzten Winter hätten viele Straßenbäume dran glauben müssen, klagt Richard Mergner vom Bund Naturschutz. Das Wetter war mild, es schneite kaum – also hätten die Kommunen ihre Straßenmeisterei-Mitarbeiter statt mit Schneeräumen mit Baumfällen beschäftigt. „Da wurde mehr als nötig umgesägt“, sagt Mergner. Der Eifer habe auch einen finanziellen Hintergrund: „Für Holz gibt es derzeit relativ viel Geld.“

Es gibt aber auch Paragrafen, die Motorsägen aufjaulen lassen. Als besonders problematisch stuft CSU-Politiker Göppel die „Richtlinien für passiven Schutz an Straßen durch Fahrzeug-Rückhaltesysteme“ – kurz RPS 2009 – ein. Sie entfalteten einige Jahre lang eine verheerende Wirkung: In einigen Bundesländern sei das Regelwerk irrtümlich auch auf vorhandene Land- und Kreisstraßen angewendet worden – Kahlschlag war die Folge. Jetzt wurde klargestellt, dass die RPS nur nach Neu- oder Umbauten von Bundesstraßen greifen. Bäume werden hier als „nicht verformbare punktuelle Einzelhindernisse“ definiert. Verlangt wird ein hindernisfreier Sicherheitsraum – eine Neupflanzung ist nur möglich, wenn mindestens 7,5 Meter Abstand zur Fahrbahn eingehalten werden. Dann könnten aber fast gar keine Bäume mehr gepflanzt werden, hieß es auf einem parlamentarischen Abend, den Göppel kürzlich zum Erhalt der Alleebäume veranstaltete. Die Landwirte würden ihre angrenzenden Felder dafür niemals hergeben. Außerdem: Eine Straße ohne Bäume lade schon optisch zum Schnellfahren geradezu ein. Verkehrspsychologe Laub bestätigt das: „Eine scheinbare Übersichtlichkeit kann zum Rasen verleiten.“

Groß angelegte Baumfällaktionen haben im Freistaat Tradition. Vor allem der Automobilclub ADAC machte einst Stimmung. Wie der Historiker Alexander Gall recherchierte, erschien 1964 in der „ADAC Motorwelt“ ein „tendenziöser Artikel“, in dem die Alleebäume ins Fadenkreuz gerückt wurden. Tenor: „Selbst die schönste Eiche und die älteste Linde“ könne ja nicht „den Tod nur eines einzigen wertvollen Menschen aufwiegen“. 1969 beklagte man sich in der „Motorwelt“, Bayern habe nun mal die „meisten Bäume“ – daher gebe es hier auch besonders viele Unfälle. Der Autofahrerclub forderte seine Mitglieder sogar auf, gefährliche Bäume zu melden – die Organisation wolle dann Druck auf die Straßenbauämter ausüben.

Die Junge Union, Kreisverband Weilheim, veranstaltete 1969 eine Podiumsdiskussion zum Thema: „Todbringende Straßenbäume – wie lange noch?“ Allein an Staatsstraßen wurden zwischen 1960 und 1971 geschätzt 175 000 Straßenbäume gefällt. „Straßenbaummord“, urteilte damals ein SPD-Abgeordneter. „Der tiefe Eingriff in das Landschaftsbild, der damit verbunden war, ließ sich auch durch die umfangreichen Ersatzpflanzungen von Sträuchern und Hecken nur in Ansätzen kompensieren“, resümiert Historiker Gall.

Tatsächlich ging die Zahl der Verkehrstoten in den 70er-Jahren – nach einem Höchststand 1970 mit 3897 Toten – langsam zurück. Inwieweit das mit Abholzaktionen zusammenhängt, ist umstritten. Wahrscheinlich hat auch die Einführung der Gurtpflicht 1976 und die Anordnung eines Bußgelds 1984 einiges bewirkt. Seitdem ist die Zahl der Verkehrstoten rückläufig – während die Zahl der Unfälle insgesamt aber gestiegen ist. 2014 verunglückten auf Bayerns Straßen 619 Menschen tödlich, davon 84, weil sie gegen einzelne Bäume, Alleebäume, Gebüsch oder einen Wald geprallt sind – in diese vier Kategorien teilt das Innenministerium die Statistik auf. Im Vorjahr waren es insgesamt noch 109 Baumtote – den stärksten Rückgang gibt es bei den Unglücken mit Einzelbäumen (von 65 auf 39). Unklar ist auch hier, ob Fällaktionen die Straßen sicherer machten.

Umweltpolitiker Göppel hat jetzt Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) eingeschaltet. Eine Arbeitsgruppe im Ministerium, in der Fachbehörden sowie Naturschutzverbände wie der BUND und der Deutsche Naturschutzring vertreten sind, soll die einschlägigen Richtlinien überarbeiten. Zum Kahlschlag im Bürokratendickicht wird es zwar nicht reichen; aber vielleicht falle wenigstens die gefürchtete 7,50-Meter-Abstandsregel für Neupflanzungen. Einen ersten kleinen Erfolg gibt es schon: Auf Göppels Initiative will Dobrindt im Frühjahr bei Berlin einen Spatenstich vornehmen: Er pflanzt symbolisch den letzten Baum einer neuen Allee.