"Fukushima ist überall"

Die Welt vom 14. März 2011

Autorin: Claudia Ehrenstein

Noch ist das ganze Ausmaß der atomaren Katastrophe in Japan gar nicht abzusehen, da ist in Deutschland schon eine heftige Debatte über die Zukunft der Kernenergie entbrannt. "Fukushima ist überall - Atomausstieg jetzt" lautet das Motto der Atomkraftgegner. In mehr als 100 Städten zwischen Flensburg und Freiburg wollen sich die Menschen heute zu Mahnwachen versammeln und für einen Ausstieg aus der Atomenergie demonstrieren. "Das Abschalten aller Meiler ist einfacher zu bewältigen als die Folgen eines Reaktorunglücks", sagte Jochen Stay, Anti-Atomkraft-Veteran aus dem Wendland und heute Mitkoordinator der bundesweiten Proteste gegen die schwarz-gelbe Atompolitik.

Dass ausgerechnet in einem Hightech-Land wie Japan gleich mehrere kerntechnische Anlagen außer Kontrolle geraten konnten, bestärkt die Gegner der Kernenergie in ihren Warnungen vor den unkalkulierbaren Risiken der Technologie. "Kein Reaktor der Welt, auch keiner in Deutschland, ist für den Fall einer Kernschmelze ausgelegt", sagte Jürgen Trittin, Ex-Bundesumweltminister und heute Fraktionschef der Grünen im Bundestag. Eine Kernschmelze sei kein "erdbebentypisches" Risiko. Kernschmelzen drohten immer dann, wenn Notkühlung etwa durch Stromausfälle nicht funktioniert, warnte Trittin. Bestehende Anlagen zum Schutz gegen Kernschmelzen nachzurüsten sei "ökonomisch unbezahlbar". Es bleibe nur die schrittweise Stilllegung aller 17 deutschen Kernkraftwerke, um das Risiko auszuschalten.

So weit aber wollte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) erwartungsgemäß nicht gehen. Kaum 24 Stunden nach der Katastrophe in dem Kernkraftwerk Fukushima bekannte sie sich in einer ersten Stellungnahme zu der friedlichen Nutzung der Kernenergie als Brückentechnologie. Dabei seien die Sicherheit der Anlagen und der Schutz der Menschen immer oberstes Gebot. "Bei der Frage der Sicherheit darf und kann es keine Kompromisse geben", sagte Merkel und kündigte eine Sicherheitsüberprüfung aller deutschen Atommeiler an. Auch auf europäischer Ebene solle die Sicherheit der Kernkraftwerke neu diskutiert werden.

Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) wollte sich zunächst nicht auf eine politische Diskussion über die Atompolitik einlassen: "Ich halte das, um es ganz zurückhaltend zu sagen, für völlig deplatziert." Im Lagezentrum seines Ministeriums informierte er sich am Wochenende kontinuierlich über die Situation in Japan. Nach und nach rückte er von seiner Haltung ab und räumte ein, es müsse über die Risiken der Atomenergie diskutiert werden. "Die Grundfrage der Beherrschbarkeit von Gefahren, die ist mit dem heutigen Tag neu gestellt", lautete sein erstes Einlenken. In einem Fernsehinterview sprach Röttgen dann von der Atomhavarie in Japan als einer "Zäsur", einem "fundamentalen Einschnitt". Die Atomenergie sei ein "Auslaufmodell", versicherte Röttgen. Es sei jedoch immer das Ziel der Bundesregierung gewesen, davon wegzukommen - trotz der im vergangenen Jahr vereinbarten Laufzeitverlängerung.

Ursprünglich sollte schon in etwa zehn Jahren der letzte deutsche Meiler vom Netz gegen. So hatte es die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2000 in ihrem Atomkonsens mit den Stromkonzernen vereinbart. Danach hätten die Reaktoren Biblis A und Biblis B sowie Neckarwestheim 1 längst stillgelegt werden müssen. Nach dem schwarz-gelben Ausstieg aus dem Atomausstieg bleiben sie nun acht Jahre länger in Betrieb, ebenso wie Brunsbüttel, Isar 1, Unterweser und Philippsburg 1. Es sind die sieben ältesten Anlagen in Deutschland. Die zehn jüngeren Meiler erhalten einen Laufzeitzuschlag von 14 Jahren. So wird die Kernenergie in Deutschland voraussichtlich erst um das Jahr 2035 beendet sein.

Eine Entscheidung, die bereits im Vorfeld zu heftigen Protesten geführt hatte - es ist noch nicht einmal ein Jahr her, dass sich rund 120 000 Atomkraftgegner die Hände zu einer 120 Kilometer langen Menschenkette reichten, die vom Kernkraftwerk Brunsbüttel vorbei am Atommeiler Brokdorf bis zum Pannenreaktor Krümmel reichte. Mit dieser medienwirksamen Protestaktion meldete sich die deutsche Anti-Atom-Bewegung zurück - genau zwei Tage vor dem Jahrestag des Reaktorunglücks von Tschernobyl. Der Zeitpunkt war bewusst gewählt. Am 26. April 1986 hatte sich der bis zu den Ereignissen in Japan größte anzunehmende Unfall (GAU) ereignet.

Mit einer 45 Kilometer langen Menschenkette von der Stuttgarter Staatskanzlei bis zum Kernkraftwerk Neckarwestheim demonstrierten am Wochenende wieder rund 60 000 Atomkraftgegner. Die Aktion war seit Wochen geplant und sollte Wähler für die in zwei Wochen bevorstehende Landtagswahl in Baden-Württemberg mobilisieren. Die Ereignisse in Japan aber gaben dem Protest eine dramatische Aktualität. "Wir erkennen, dass sogar die hervorragenden japanischen Experten mit Risiken konfrontiert sind, die technisch nicht zu bewältigen sind", sagte Grünen-Chef Cem Özdemir. Und SPD-Chef Sigmar Gabriel zeigte sich demütig angesichts des Reaktorunglücks in Japan: "Die Katastrophe zeigt, dass der Mensch die Natur nicht beherrschen kann." Der Bundesregierung warf er vor, angesichts des atomaren Notstands in Japan die Bevölkerung in Deutschland lediglich beruhigen zu wollen. "Was in Japan ein Erdbeben ist, kann in Deutschland ein Flugzeugabsturz sein." Die dramatischen Ereignisse in Japan belegten, "dass der Super-GAU keine theoretische Rechengröße ist", sagte Gabriel. Es sei nun offenkundig, "dass das Atomzeitalter endgültig zu Ende ist".

Der schleswig-holsteinische FDP-Landeschef Jürgen Koppelin plädierte für eine Rückkehr zum Atomausstieg: "Wir fordern die Bundesregierung auf, ihre Entscheidung erneut zu überdenken - auch mit dem Ziel, ältere Kraftwerke abzuschalten." Dagegen will die Bundes-FDP an der Laufzeitverlängerung festhalten. Das Atomunglück in Japan stelle den Beschluss nicht infrage, sagte Fraktionschefin Birgit Homburger. Die Ereignisse in Japan müssten analysiert werden. Dann erst stelle sich die Frage, ob in Deutschland die Sicherheitsvorkehrungen verschärft werden müssten.

Naturkatastrophen in der Größenordung eines Erdbebens und eines Tsunami wie jetzt in Japan seien in Europa nicht zu erwarten, sagte Gerd Jäger, Technikvorstands des Energiekonzerns RWE. "Für RWE kann ich nur noch einmal unterstreichen, dass jeder Standort, an dem wir ein Atomkraftwerk errichtet haben, genauestens überprüft und analysiert wurde." Sicherheit habe oberste Priorität. "Dennoch gibt es natürlich wie in allen Lebensbereichen Restrisiken", räumte Jäger ein. Und eben diese Restrisiken gelte es immer weiter zu minimieren. Das Alter eines Reaktors sei dabei jedoch kein Maßstab für die Sicherheit. "Entweder ein Atomkraftwerk erfüllt die Sicherheitsanforderungen oder eben nicht." Im Zuge der Laufzeitverlängerung wurden die Betreiber der 17 Kernkraftwerke in Deutschland denn auch verpflichtet, die Sicherheit ihrer Anlagen zu überprüfen und gegebenenfalls nachzurüsten. Bis zu 500 Millionen Euro wurden dabei für jeden Meiler als Obergrenze festgelegt. Die Kernkraftwerke würden aber ohnehin ständig an die neuesten Sicherheitsstandards angepasst, versicherte Dieter Marx vom deutschen Atomforum. Kein Meiler stehe mehr so da, wie er einmal errichtet wurde. Spezielle Lehren aus den aktuellen Vorfällen in Japan könnten erst gezogen werden, wenn die genauen Analysen vorlägen und mit den Gegebenheiten in Deutschland verglichen werden könnten. Bis dahin aber könnten noch Monate vergehen. Die jetzt ausgebrochene Debatte über die Zukunft der deutschen Kernkraftwerke sieht Marx gelassen: "Die Anlagen sind auf einem sehr hohen Stand der Sicherheit."

Das Thema Kernenergie aber bewegt die Menschen in Deutschland besonders stark und wird emotional diskutiert. Der CSU-Umweltpolitiker Josef Göppel hält daher eine Überprüfung der Sicherheitsstandards für "selbstverständlich und unumgänglich". Die Laufzeitverlängerung für die älteren Kraftwerkstypen hält er für problematisch und fordert eine Überprüfung. So müsse geklärt werden, ob ein Ausfall der Kühlsysteme etwa durch einen Flugzeugabsturz ausgeschlossen werden könne. Auch die Wandstärken der Sicherheitsbehälter müssten überprüft werden.

Ein großes Problem sieht Göppel unter anderem darin, dass die Leitstände zur Steuerung von Kernkraftwerken im Katastrophenfall innerhalb der Gefahrenzone liegen und möglicherweise gar nicht mehr erreichbar seien.

Göppel kündigte an, er werde im Umweltausschuss des Bundestags beantragen, noch in dieser Woche eine Stellungnahme des Bundesumweltministers zu den Ereignissen in Japan und den Sicherheitsstandards deutscher Kernkraftwerke zu verlangen. Von der Unionsführung erwarte er jetzt, eine intensive Debatte über die Zukunft der Atomenergie zu führen. "Wenn die Union an ihrem Kurs in der Atompolitik festhält, verliert sie ihre Mehrheitsfähigkeit als Volkspartei", warnte Göppel. Michael Fuchs, CDU-Wirtschaftsexperte und Unionsfraktionsvize im Bundestag, sieht jedoch keinen Grund, die Nutzung der Kernenergie in Deutschland infrage zu stellen. Es sei geradezu verwegen, die Ereignisse in Japan für einen Kurswechsel in der Atompolitik zu instrumentalisieren.

Opposition und Atomkraftgegner aber werten die Ereignisse in Japan gerade als Argument, ihren Protest gegen die schwarz-gelbe Atompolitik zu verstärken. Schon planen sie die nächsten Aktionen. Am 25. April, einen Tag vor dem 25. Jahrestag des Tschernobyl-Unglücks, sollen Demonstrationen an 13 Kernkraftstandorten stattfinden. Auch die Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe könnte das Atomunglück in Japan zur Eile mahnen: Sie müssen über drei Klagen gegen die Laufzeitverlängerung entscheiden. Sollten sie die von der schwarz-gelben Koalition beschlossene Änderung des Atomgesetzes kippen, würde das die Rückkehr zum rot-grünen Atomausstieg bedeuten - und die ältesten Kernkraftwerke müssten dann schon bald vom Netz genommen werden.