Die Unbeugsamen

Josef Göppel bei einer Waldbegehung

Der Spiegel vom 22. März 2008

von Dirk Kurbjuweit

Es ist eine Zeit des Umfallens: Kurt Beck und Andrea Ypsilanti haben Wortbruch begangen. Auch Angela Merkel macht eine ganz andere Politik, als sie angekündigt hat. Doch es gibt auch Politiker, die immer bei ihrer Position bleiben. Ist das sinnvoll?

Wenn sich der Abgeordnete Josef Göppel nach einer Woche in Berlin besinnen will, geht er in seinen Wald, setzt sich an den Wegesrand und befragt die Käfer. Er sitzt reglos da und lauscht. Dann hört er etwas, was nur die Stillen und Beharrlichen hören können. Er hört die Käfer auf dem Waldboden, ihr Gekrabbel, ihr Geknacke. Was sie ihm sagen, ist: Es ist gut, es ist richtig. Josef Göppel, Mitglied des Deutschen Bundestags und der CSU, fühlt sich wohl in diesen Minuten.

Es ist sein Wald. Er gehört ihm nicht, aber hier hat er eine Waldarbeiterlehre gemacht, hier hat er als Förster gearbeitet, Bäume gepflanzt und Sauen geschossen. Es ist ein Wald in Mittelfranken, nahe Herrieden, wo Josef Göppel lebt. Eichen, Tannen, Wildschweine, Käfer.

Die Befragung der Käfer ergibt seit vier Jahrzehnten für Josef Göppel immer die gleiche Antwort: Es lohnt sich, du musst weitermachen. In München, wo er Landtagsabgeordneter war, und in Berlin hat er ganz andere Sachen gehört: Kauz, Spinner, lass es sein, hör auf damit.

Er hat nicht aufgehört, er wird nie aufhören. Er ist ein Umweltschützer, und er ist in der CSU. Das passt nicht gut zusammen, aber Göppel ist das egal. Eine andere Partei als die CSU kann er sich nicht vorstellen, und wenn seine Fraktion etwas beschließen will, was der Umwelt schaden könnte, stimmt er halt dagegen. Dann hat er wieder großen Ärger in Berlin und freut sich auf den Freitag, wenn es nach Hause geht zu den Käfern.

Josef Göppel hat ein weiches Gesicht, aus dem der Bube wohl nie weichen wird. Es gibt darin keine Kanten, keine Ecken, keine Schärfe. Dieses Gesicht lässt Göppel sanft wirken, aber nicht gemütlich. Das liegt an den Augen. Die Augen sind wie zwei Steine im Wasser, man sieht: Beharrung. Dann gibt es noch die Langsamkeit. Wenn Göppel redet, könnten die Zuhörer in den Pausen zwischen den Worten und Sätzen die Zeitung lesen und wären damit bald fertig.

Josef Göppel ist einer jener Politiker, die man die Unbeugsamen nennen könnte. Sie haben ein großes Thema, und sie wackeln und wanken nicht. Sie kämpfen seit Jahrzehnten für dieses Thema, ob es nun Konjunktur hat oder nicht, und sie lassen sich von niemandem von ihrem Weg abbringen. Göppel ist so einer, Norbert Geis gehört dazu, ebenfalls CSU, und Ottmar Schreiner von der SPD. Es gibt noch mehr Unbeugsame im Bundestag, in allen Parteien, aber viele sind es nicht.

Sie sind das Gegenprogramm, so wie Dagmar Metzger in Hessen, die auf keinen Fall mit der Linken kooperieren will. Für die meisten anderen ist Politik zu einem Spiel geworden, in dem Beweglichkeit das Wichtigste ist. Positionen werden je nach Lage der Dinge bezogen und wieder verlassen, manchmal in rascher Folge. Ovids Metamorphosen sind nichts gegen eine Legislaturperiode des Deutschen Bundestags oder ein paar Wochen Koalitionssuche in Hessen. Es ist ein nervöses, fast hysterisches Spiel, in dem sich gerade die Erfolgreichen mit der Zeit um ihre Kenntlichkeit bringen. Oder weiß jemand, welche Überzeugungen Angela Merkel hegt? Kurt Beck?

Es geht jetzt um Erholung, weg von den Umfallern, Dauerwacklern und Nase-in-den-Wind-Haltern. Es geht jetzt um Überzeugungen in der Politik. Wo sie herkommen, welche Folgen sie haben und welchen Sinn. Die große Frage ist: Wäre Politik besser, wenn sie mehrheitlich von Überzeugungstätern gemacht würde?

Drei Abgeordnete - Geis, Schreiner, Göppel -, jeder war bereit, die Wurzeln seiner Überzeugungen zu zeigen. Und bei allen drei Begegnungen waren Klänge wichtig, die Musik eines Milieus.

Norbert Geis, 69, steht in seiner Kirche in Aschaffenburg und singt, während die Orgel braust, mit einer schönen und klaren Stimme "Jauchzet dem Herrn". Er kämpft für den Erhalt der klassischen Familie und verficht ein christliches Weltbild als Grundlage der Politik.

Ottmar Schreiner, 62, sitzt am Steuer seines alten Mercedes und biegt nach Schwarzenholz ein, und schon erklingen Trillerpfeifen und Protestgesänge von Leuten, die sich gegen ihren Abstieg wehren. Schreiner ist ein klassischer Sozialpolitiker, der gegen Armut und für die Rechte von Arbeitnehmern kämpft.

Josef Göppel, 57, führt durch seinen Wald, dessen Stimmen er alle kennt. "Die Vögel singen am Abend völlig anders als am Morgen", sagt er. Göppel trägt Gummistiefel und schreitet kräftig aus für einen Mann, der so langsam redet. Ihm folgt sein Hund Linus, ein Deutsch Stichelhaar.

Göppel schlägt sich ins Dickicht, stellt sich unter eine Tanne und schaut nach oben. Er sagt: "Es ist gut, dass man den Himmel nicht sieht." Der Wipfel ist dicht, die Tanne ist gesund. "Hier, sehen Sie die Ebenmäßigkeit der Rinde." Er klopft gegen den Stamm, er freut sich über das satte Geräusch. Seine Hand fährt zärtlich über die Rinde. Was er jetzt empfindet? "Demut", sagt Josef Göppel.

1970 ist er in die CSU eingetreten und in den Bund Naturschutz. Seine Überzeugungen kommen aus dem Wald, hier habe er "Lebensfülle gespürt, eine Lebenswelt, quasi eine Parallelwelt". Er wollte und will diese Welt beschützen.

Damit wurde er in seiner Partei zum Spinner aus dem Wald. Sie haben ihn behandelt, als ob "ich nicht ganz bei Trost bin". Sie haben versucht, ihn nicht nach oben kommen zu lassen, aber er ließ sich nicht verdrängen und hat alle Kampfabstimmungen um Mandate gewonnen. "Am Anfang hat es mich verletzt, dass ich mich so dumm habe anreden lassen müssen, aber ich habe mich daran gewöhnt." Und hinter dem Schmerz liegt die Freiheit. Er tut das, wovon er überzeugt ist, sollen sie doch reden und lachen. Das sind nicht die Stimmen, auf die es ihm ankommt. Er hört den Kuckuck in seinem Wald, die Spechte und die Käfer.

Göppel hat für Änderungen am Erneuerbare-Energien-Gesetz gestimmt, obwohl das ein Projekt der rot-grünen Regierung war. Er hat beim Fluglärmgesetz gegen den Gesetzentwurf der Großen Koalition gestimmt, weil die effektiveren Grenzwerte nicht für die alten Flughäfen gelten, sondern nur für die neuen. Er ist für ein Tempolimit, und damit ist man schon fast Ketzer in der BMW-und-Audi-Partei CSU. Als im Bundestag über ein Tempolimit debattiert wurde, hat ihn die Fraktionsspitze nicht auf die Rednerliste gesetzt. "Es wäre ein Zeichen von Größe gewesen", sagt Göppel.

Er hockt sich auf den Boden. Ein Bach murmelt, ein paar Sonnenstrahlen fallen schräg zwischen den Baumstämmen hindurch und lassen das Moos in der Düsternis grün glimmen. Göppel zeigt Gabelzahnmoos, Treppenmoos und Goldenes Frauenhaar. Moos sei ein Zeichen fruchtbarer Böden, sagt er.

Der Waldboden ist ein Speicher von CO2 , er bindet das Gift, aber man dürfe ihn nicht überfordern, sagt Göppel. Er kämpft für den Klimaschutz, er war auf der Konferenz auf Bali im Dezember vergangenen Jahres, und eigentlich ist er ganz zufrieden mit seiner Kanzlerin. "Es geht in die richtige Richtung. Es ist schön zu sehen, dass vieles von dem, was ich über die Jahre an Ideen hatte, jetzt allgemeine Politik ist." Dass Angela Merkel von den Reformversprechen ihres Leipziger Parteitages weit abgerückt ist, berührt ihn weniger.

Für die CSU ist Göppel jetzt ein bisschen weniger Spinner als noch vor Jahren. In diesen Zeiten ist ja mehr oder weniger jeder für den Klimaschutz, da kann ein Klimaschützer kein Spinner mehr sein.

Politik passiert in Wellen, die Themen und Wertungen kommen und gehen. Deshalb ist das große Wagnis der Politik die Festlegung. Wer sich heute festlegt, ist morgen ein Spinner und übermorgen ein Prophet, bis er wieder Spinner ist. Es gibt nicht viele Politiker, die eine Spinnerphase aushalten können oder wollen. Spinnertum und Machtanspruch schließen sich aus. Auch deshalb sind Überzeugungstäter so selten.

Sie brauchen einen Referenzraum, in dem etwas langfristig gilt, in dem die Bedürfnisse bleiben, egal, wie die politische Konjunktur ist. Für Göppel ist das der Wald, durch den er so kraftvoll schreitet. Im Wald findet er eine Gewissheit, und die zeigt sich manchmal in seinem Lächeln. Es ist ein Lächeln, das sich langsam anschleicht und lange bleibt und das aus einem höheren Wissen zu kommen scheint. Es steckt eine stille Überlegenheit darin, auch eine Zumutung, weil es sich über Widerspruch erhebt. Der Überzeugungstäter schließt den eigenen Irrtum aus, und sein Lächeln sagt: Die Dinge sind eben so.

Wenn sie aber nicht so sind?

Es ist ein Sonntag, kurz vor halb elf, Norbert Geis geht in die Stiftskirche St. Peter und Alexander in Aschaffenburg, eine Kirche, die aus romanischer Zeit stammt, dann in anderen Stilen umgebaut und erweitert wurde. Er macht einen Knicks vor dem Altar, er bekreuzigt sich und benetzt sich mit Weihwasser. Er stellt sich in eine mittlere Reihe, rechts. Ungefähr hundert Leute sind gekommen, Geis' Stimme ist bei den Liedern immer gut zu hören.

Nach der Messe schaut er kurz beim Pfarrer vorbei, ein Espresso, ein Plausch. Der Pfarrer lobt Geis, er sei ein Politiker, auf den sich die Kirche verlassen könne, bei der Bioethik, in der Familienpolitik. Geis wollte selbst einmal Priester werden, hat dann aber Jura studiert.

Beim Rundgang durch Aschaffenburg räsoniert Geis darüber, "was eine Gesellschaft zusammenhält, was das Seinsverständnis ausmacht". Für ihn sind das die christlichen Werte, es ist die "Gotteskindschaft aller". Dieses Bewusstsein zu erhalten sei ein Auftrag an jede Generation. "Sonst passiert etwas wie '33."

Er ist ein schmaler, nicht allzu großer Mann mit grauem Haar, ein soignierter Herr, den man sich in Göppels Gummistiefeln nicht vorstellen kann. Beim Rundgang fällt auf, dass er oft Dinge anspricht, die geblieben sind, die sich fortsetzen, wiederholen. Er hat im Jesuitenseminar gewohnt, wie schon andere Männer seiner Familie. Seine vier Kinder hat er auf das humanistische Gymnasium geschickt, auf dem er selbst war. So wird der Rundgang zu einer großen Erzählung des Bleibens.

Dann geht es mit dem Auto in den Spessart, wo Geis mit seiner Familie in einem geräumigen Haus lebt. Nach vorn schauen sie auf ein Sägewerk, nach hinten auf Wiesen und Wald. "Wo ist meine Frau?", ruft Geis, als er durch die Tür tritt. "In der Küche", sagt sein Sohn. "Natürlich in der Küche", sagt Geis, "sie macht ja das Ossobuco." Seine Frau kommt, sie ist von einer Eleganz, der auch eine Küchenschürze nichts anhaben kann.

Was nun ausbricht, ist nur mit dem Wort Behaglichkeit zu beschreiben. Tiefe Sessel, in denen aufs angenehmste Konversation gemacht wird, ein Gläschen Sherry dazu, zwei der vier Kinder sind da und zeigen gute Manieren, der große Hund rundet die Familie ab. Ein Korken ploppt, und Geis bittet zu Tisch.

Es geht dann um das, was gerade zu erleben ist: Familie. "Ich bin der Meinung", sagt Geis, "dass die Ehe eine echte Errungenschaft unserer Kultur ist. Ehe ist die Voraussetzung für Familie, und Ehe muss offen sein für Kinder." Damit sind Schwule schon mal nicht ehetauglich für Geis.

Nach dem Salat trägt seine Frau das Ossobuco auf, und es ist wunderbar zart. Mit dem, was Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) tut, ist Geis nur begrenzt einverstanden. Er sagt: "Sie macht Familienpolitik zu stark mit Blick auf die Krippen. Wir reden nicht davon, dass es Frauen gibt, die daheimbleiben wollen. Wir reden nicht davon, dass Kinder am besten bei den Müttern erzogen werden."

Niemand am Tisch widerspricht. Die Kinder hatten es nicht leicht mit diesem Vater, er war dafür, Madonna wegen Obszönität ein Auftrittsverbot zu erteilen, er war für eine Sperrstunde für Jugendliche, um Gewaltexzesse zu verhindern. Es hat viele Diskussionen an diesem Tisch gegeben, aber auch ein grundsätzliches Einverständnis. Die beiden Kinder, die da sind, bekennen sich zur Union. Sie sagen, dass es wunderbar war, eine Mutter zu haben, die viel Zeit hatte für ihre Kinder.

Die Tochter hat gerade eine Schularbeit geschrieben, in der sie Cicero und Machiavelli verglichen hat. Ihren Vater sieht sie näher bei Machiavelli, also bei der Machtpolitik. Er mache ja dauernd Kompromisse. Geis tut das sichtbar weh. Das ist der große Schmerz der Unbeugsamen, sie können nicht dauernd gegen die eigene Fraktion opponieren und beugen sich hier und dort. Geis wird für das Krippengesetz stimmen, und da ist das Betreuungsgeld, das es für Mütter zu Hause geben soll, nur ein kleiner Trost.

Geis' Frau sagt, das Geheimnis des Ossobucos sei die Garzeit. Man müsse dem Fleisch drei Stunden gönnen. Über ihre Rolle habe sie sich nie Gedanken gemacht. Es war ihre Rolle. Sie sagt nicht, dass sie die wahre Ernährerin dieser Familie ist. Geis sagt es: Seiner Frau gehöre die Hälfte vom Sägewerk drüben.

Er will, dass etwas bleibt, die alte Familienordnung, die sich bei ihm so ideal fügt. Eigentlich will er, dass Familien so sind wie seine, so wie sie die katholische Kirche gern sieht. Das Eigene soll zum Gesetz werden für die anderen. Daher kommt die Leidenschaft, die einen wie ihn so angenehm hervorhebt. Aber viele junge Frauen dieser Zeit wollen auch außerhalb der Familie arbeiten, und sie sind andere Mütter als früher. Die Dinge sind nicht mehr so.

Das Problem des Bleibens ist die Bewegung der Welt. Daraus kann ein Zurückbleiben werden. Göppel ist gerade in die Mehrheit gerutscht, Geis in die Minderheit. Wenn man ehrlich ist, wird der Unbeugsame nur von dem gemocht, dessen Meinung er vertritt. Für den anderen ist er der Gegner, manchmal der Feind.

Sowohl Geis als auch Göppel haben schon Hass gespürt, am meisten aber wohl Ottmar Schreiner.

Schreiner ist ein Mann, den man zuletzt als etwas unstet erleben konnte. Er hat geraucht, aufgehört, wieder angefangen, er hat zugenommen, abgenommen, aber er blieb unverwüstlich der Sozialpolitiker Ottmar Schreiner, dessen Stimme jetzt gerade in den Ohren der Schwarzenholzer SPD-Mitglieder schmirgelt. Rau ist diese Stimme, sehr rau.

Er steht hinter einem Mikrofon und sagt die Dinge, die für ihn immer fällig sind. Es steht schlimm um die soziale Gerechtigkeit in Deutschland, ein würdevolles Leben sei für viele nicht möglich. Dies ist sozialdemokratische Kirche, zelebriert in einer Turnhalle mit den Schleifspuren von Sportschuhen auf dem Boden.

Nach seinem Vortrag steuert Schreiner seinen alten Mercedes gemächlich durch seinen saarländischen Wahlkreis. Es ist eine Welt, die abhandengekommen schien, eine Welt der Schlote, die dem Himmel das Blau bestreiten, eine Welt der Abraumhalden, der monumentalen Fabrikhallen. Es gibt ein Stahlwerk, eine Zeche, und Ford baut hier Autos. Es ist die Gegenwelt zu Göppels Wald, und Ottmar Schreiner ist hier aufgewachsen.

Diese so üppige Welt aus Stahl und Steinen hat nur wenige reich gemacht. Am Straßenrand stehen die gleichen Häuschen wie im Ruhrgebiet, schmucklos, winzig, geduckt, eigene vier Wände, hinter denen um den Kredit gebangt wird.

Schreiners Vater war Kriegsinvalide, "die Mutter musste den Groschen dreimal umdrehen". Es war "ein Leben an der Armutsgrenze, es gab eine hohe Selbstbeschränkung". Während es bei Geis um den Erhalt von Familienmustern ging, kämpften die Schreiners um deren Überwindung. Der Ottmar sollte es besser haben, und er wurde das erste Kind der Familie, das Abitur gemacht hat.

Aber auch er ist in einem Familienmuster geblieben, er hat sich das Überwindungsdenken erhalten. Was er geschafft hat, sollen auch andere schaffen, raus aus dem Elend. So hat auch Schreiner seinen Referenzraum, die Armut.

Seine schlimmste Zeit als Abgeordneter war 2003, der Kampf um Schröders Agenda 2010. Er wollte nicht allen Gesetzen seine Stimme geben und sah sich einem "Repressionsapparat" ausgesetzt.

"Es gab drei Fraktionssitzungen in einer Woche, um den Druck auf die Abweichler zu erhöhen. Es gab Absprachen, du und du, ihr müsst denen eins über die Nuss geben, wir wurden geschnitten, man musste sich fast als Paria empfinden. Es wurde blinde Gefolgschaft verlangt, das war entwürdigend, eine Demütigung des Parlaments."

"Spinnen die, oder spinnst du?", hat er sich gefragt. Er hat keinen Wald, keine Käfer, die zu ihm sprechen und Kraft verleihen. Es waren die Stimmen derer, dich sich von der Agenda bedroht fühlten, die kleinen Leute. Sie schrieben Schreiner Briefe und jubelten ihm bei seinen Auftritten zu.

Heute fühlt er sich bestätigt. Die SPD ist von der Agenda 2010 abgerückt und wieder da, wo Schreiner geblieben ist, links. Er ist nicht mehr für viele Sozialdemokraten der Gegner. Aber hat er deshalb recht behalten?

Man muss hier kurz zurückspulen, zu dem Moment, als Schreiners Mercedes das Ortsschild von Schwarzenholz passiert und die Musik seines Milieus ertönt, zorniges Pfeifen und Singen. Dann parkt er vor der Turnhalle. Rund hundert Leute stehen davor und halten Plakate hoch.

Schreiner steigt aus, geht los. Er ist überrascht, als ihn drei Polizisten stoppen. Sie sind freundlich und sagen, dass sie zu seinem Schutz hier seien. "Zu meinem Schutz?", fragt Schreiner verblüfft. Vielleicht hatte er manchmal den Eindruck, vor seinen Fraktionskollegen geschützt werden zu müssen. Aber vor diesen Leuten, die doch sichtbar kleine Leute sind, seine Leute also? "Es ist besser", sagt einer der Polizisten, und dann nehmen sie ihn in die Mitte. Sobald die Leute vor der Halle Schreiner erblicken, pfeifen sie noch lauter und recken Plakate, auf denen ein Häuschen in einem roten Kreis zu sehen ist. Das Häuschen bricht in der Mitte auseinander.

Ein zorniger Mann mit einem Mikrofon in der Hand stellt sich Schreiner in den Weg und schimpft lauthals los. Es geht um Folgendes: Wenn im Bergwerk gearbeitet wird, kommt es zu kleineren Beben, die die Häuschen in der Umgebung zerbröckeln lassen. Schon sind sie fast unverkäuflich, also wertlos. Die Kapitalanlage von Leuten, die sich ihre Häuser vom Mund absparen, geht dahin. Sie wollen, dass das Bergwerk seine Arbeit einstellt.

Im Bergwerk arbeiten über 3500 Menschen. Deren Existenz steht gegen die Existenz der Hausbesitzer, die selbst zum großen Teil Arbeiter sind, nicht im Bergwerk allerdings. Arbeiter gegen Arbeiter - was macht da Ottmar Schreiner?

Was man jetzt mit ihm erlebt, ist der Beginn von Politik. Er kann diese Sache nicht sofort entscheiden. Er nimmt das Mikrofon und versucht zu beschwichtigen, den Druck rauszunehmen. Er zeigt Verständnis, und das geht fast schief, weil ein kleiner, schmaler Mann, dem eine ohnmächtige Wut im Gesicht steht und der eine große Holzschnarre trägt, plötzlich losstürmt, als wolle er Schreiner erschlagen, aber er besinnt sich zum Glück und hält zwei Armlängen vor seinem Ziel inne.

Die Leute fühlen sich zunächst abgespeist mit Beschwichtigungen und diesen typischen Politikerfloskeln vom In-Ruhe-nachdenken-und-an-einen-Tisch-Setzen, aber Schreiner dreht die Stimmung, als er vorschlägt, dass er für eine Woche im Erdbebengebiet wohnen werde, um selbst zu erleben, wie schlimm die Erschütterungen sind. Es wird geklatscht, Schreiner zieht unbehelligt in die Halle ein. Es ist Zeit gewonnen für die Suche nach einer Lösung, einem Kompromiss.

Inzwischen ist der Konflikt gelöst, weil es ein lebensbedrohlich schweres Beben gegeben hat und der Bergbau untragbar geworden ist. Ein bisschen ist es die Rettung für Ottmar Schreiner. Er muss sich nicht entscheiden. Es war eine durchaus typische Situation für Politik. Es gab zwei Seiten mit guten Argumenten, und es wäre sehr schwierig geworden, einen Kompromiss zu finden.

So ist es auch in Berlin jeden Tag. Wer kennt schon das ideale Modell für eine Gesundheitsreform? Wer weiß, was dem Klima wirklich hilft? Wer hat die Antwort auf die Frage, wie eine wirksame Menschenrechtspolitik gegenüber China aussehen muss? Politik ist suchen, zweifeln, einen Kompromiss aushandeln. Niemand hat grundsätzlich recht, nicht einmal die Käfer.

Geis, Göppel, Schreiner - dreimal Kirche im Prinzip, die katholische Religion, der Wald, die Hütte der Armen. Sie haben eine letzte Wahrheit, sie kommen schneller als andere an einen Punkt, an dem sie nicht mehr weichen. Das ist eindrucksvoll und, weil sie keine Eiferer sind, sympathisch.

Gegen die Umfallerei von Andrea Ypsilanti oder Kurt Beck stehen sie glänzend da, auf den ersten Blick. Auch auf den zweiten, weil Beck so tapsig war und Ypsilanti so ruchlos. Auf den dritten Blick braucht Politik viel Beweglichkeit. Kann sich jemand eine Regierung nur mit Göppels, Geisens und Schreiners vorstellen?

Sie treffen sich an einem frühen Nachmittag zu einem gemeinsamen Fototermin. Göppel und Geis warten vor dem Reichstag, Schreiner kommt mit einem Fahrrad angefahren. Sie gehen hinüber zum Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, wo sie auf der großen Außentreppe fotografiert werden sollen. Jeder geht für sich, kein Wort fällt.

Dann stehen sie auf der Treppe, Schreiner, SPD, zwischen Göppel und Geis, CSU. Sie sind befangen, sie halten Distanz. Sie sollen näher zusammenrücken, damit sie auf ein Bild passen.

"Nicht, dass es abfärbt", sagt Schreiner.

"Wir sind so tiefschwarz in der Wolle gefärbt, dass nichts abfärben kann", sagt Geis. Jetzt lachen sie.

Norbert Geis trägt einen schwarzen Mantel, als wolle er gleich noch in die Kirche gehen. Josef Göppel hat sich in den Farben des Waldes gewandet, und Ottmar Schreiner würde mit seinem Parka zwischen Arbeitern oder Kleinbürgern nicht auffallen. Drei Unbeugsame in den Kleidern ihrer Lebensrollen.

Das Foto gelingt, aber es trifft eine falsche Aussage. Die beiden Männer außen verbindet fast nichts mit dem Mann in der Mitte. Die Bedürfnisse von Göppels Wald und Schreiners Arbeitswelt sind nur schwer in Einklang zu bringen. Den Kompromiss können Unbeugsame nicht aushandeln. Es ist gut, dass sie da sind, als Mahnung gegen das allzu Bewegliche, und es ist gut, dass sie so wenige sind.

Sie gehen zurück zum Reichstagsgebäude. Göppel bleibt allein, aber irgendwie landet Geis neben Schreiner. Schweigen erst, dann erklärt Geis, wie man ein gutes Ossobuco zubereitet.