Forderung nach Tempolimit bringt Deutsche auf 180

New York Times vom 16. März 2007

PFAFFENHAUSEN – Auf die Frage nach dem Sinn der Einführung eines Tempolimits auf deutschen Autobahnen antwortet Marc Bongers, indem er ungeduldig den 435-PS-Motor seines getunten Porsches beschleunigt. Langweiler, so Bongers,vermiesen einem schon den ganzen Spaß. „Eine Frau“, seufzte Bongers, als ein Mercedes langsam auf die Überholspur einer viel befahrenen Schnellstraße im südlichen Bayern wechselte. „Und sie telefoniert ohne Freisprecheinrichtung“, sagte er, während er ihr einen Blick von der Seite zuwarf. „Weiß sie denn nicht, dass das auf der Autobahn verboten ist?“ Mit einem freien Stück Straße vor sich drückte Bongers das Gaspedal bis zum Anschlag durch. In Sekundenschnelle schoss der Tacho auf 285 km/h, was hierzulande immer noch erlaubt ist. Dies entspricht ungefähr der Geschwindigkeit eines Verkehrsflugzeuges beim Abheben.
Nur wenige Dinge liegen den Deutschen so sehr am Herzen wie die Freiheit, so rasen zu dürfen wie Michael Schumacher, der legendäre Formel-1-Weltmeister. Die sonst so gesetzestreuen und risikoscheuen Deutschen sehen dagegen das Fahren auf der Autobahn mit haarsträubender Geschwindigkeit als ein nahezu unabdingbares Recht.
Nun aber steht der Hang der Deutschen zum Rasen der Angst vor der globalen Erwärmung gegenüber, da klar wird, dass durch die sonntäglichen Rennen Tonnen von Kohlendioxid in die Luftgeblasen werden. Vergangene Woche hat EU-Umweltkommissar Stavros Dimas aus Griechenland eine nationale Debatte ausgelöst, als er vorschlug,die Bundesregierung solle ein generelles Tempolimit auf Autobahnen einführen. Zwar gibt es bereits auf der Hälfte der etwa 12000 km Autobahn entweder durchgängig oder streckenweise Tempolimits, aber die Strecken, auf denen erlaubt ist, was gefällt, sind die schnellsten öffentlichen Straßen der Welt. „Tempolimits sind aus vielen Gründen sinnvoll und in den meisten der 27 EU-Mitgliedstaaten sowie in den Vereinigten Staaten an der Tagesordnung“, sagte Dimas in einem Interview mit dem Boulevardblatt Bild. „Seltsamerweise ist das Thema nur in Deutschland ein Streitpunkt.“
Aber tatsächlich lösten seine sachlich formulierten Worte bei Politikern und Automobilherstellern hierzulande eineWelle der Empörung aus. Manche taten so, als habe man in Brüssel angeordnet, in Deutschland Bier und Bratwurst gesetzlich zu verbieten. Dies stelle eine „Verharmlosung des Klimaproblems“ dar, äußerte Bundesumweltminister Sigmar Gabriel. Der Verband der Automobilindustrie erklärte, Deutschland brauche „keine Nachhilfe“ von anderen Europäern in Sachen Umweltschutz. Sogar Bundeskanzlerin AngelaMerkel, die als derzeitige EU-Ratspräsidentin und G8-Vorsitzende den Klimawandel ganz oben auf die Tagesordnung gesetzt hat, ist gegen ein einheitliches Tempolimit. Sie ist wohl eher kein Autofan. Anders als von ihrem Vorgänger Gerhard Schröder gibt es von ihr selten Fotos hinter dem Steuer. Aber sie scheint erkannt zu haben, dass – ähnlich wie die Sozialversicherung in den USA – das Thema Autobahn ein heißes Eisen in der deutschen Politik darstellt, an dem sich diejenigen, die sich daran vergreifen, die Finger verbrennen. Kritiker verweisen auf Statistiken, die zeigen, dass ein Tempolimit von 120 km/h den Gesamt-CO2-Ausstoß in Deutschland nur um wenige Millionen Tonnen pro Jahr, d. h. weniger als 0,5 %, reduzieren würde. Sinnvoller wäre es ihrer Meinung, sich stärker auf den Bau effizienterer Kraftwerke und Häuser zu konzentrieren.
Aber, wie Umweltverbände und einige wenige Politiker herausstellen, bedeuten einige wenige Millionen Tonnen CO2 bereits eine beträchtliche Einsparung. Im Gegensatz zu anderen Maßnahmen – wie beispielsweise saubere Kohlekraftwerke oder Hybridautos – könnte eine Geschwindigkeitsbegrenzung schnell und zu relativ niedrigen Kosten eingeführt werden. „Unsere Politiker erzählen gerne, Deutschland müsse nicht mehr in Sachen Klimawandel tun als andere europäische Länder, aber in diesem Bereich tun wir eher weniger“, sagte Josef Göppel, der zu den wenigen CSU-Abgeordneten gehört, die ein Tempolimit befürworten.
Jahrelang war das wichtigste Argument der Befürworter eines Tempolimits die Sicherheit. Allerdings sind deutsche Autobahnen statistisch gesehen sicherer als die Schnellstraßen vieler anderer Länder, auch wenn Autobahnunfälle besonders schlimm sind. Es zeigt sich also, dass die Rettung des Planeten wohl einen größeren Ansporn darstellen könnte als die von Menschenleben. „Der Stolz der Deutschen darauf, Nummer 1 in Sachen Umweltschutz zu sein, könnte zum Durchbruch führen“, erklärte Peter Schneider, ein Autor, der freiwillig nicht schneller als 150 km/h auf der Autobahn fährt. Schneider sieht die Sache realistisch. Schnell zu fahren ist tief verankert in der Seele der Deutschen – eine Vorliebe, die sogar den Zweiten Weltkrieg überlebt hat. Es ist eine Sucht über alle gesellschaftlichen und politischen Grenzen hinweg. „Ich habe einige Freunde, die eher links gerichtet und sehr gebildet sind und die mir voller Stolz erzählen, dass sie die Strecke von Berlin nach Hamburg in zwei Stunden schaffen“, erzählt Schneider. (Dazu muss man durchschnittlich 140 km/h fahren.)
Es gibt auch einen wichtigen wirtschaftlichen Grund dafür, warum Deutschland sich gegen ein Tempolimit wehrt. In Deutschland werden einige der schnellsten Autos der Welt gebaut, und die Autobahn ist ein bedeutendes Vorführ- und Absatzinstrument der Industrie. Ein Reiseveranstalter bietet sogar Autobahntouren für Besucher aus China an.Autokenner aus aller Welt kommen inScharen nach Pfaffenhausen, ein Provinznest, in dem die ortsansässige Firma„Ruf Automobile“ Hochleistungsfahrzeuge produziert. Marketingleiter Marc Bongers erklärte, diejenigen, die diese individuell angefertigten Porschefahrzeuge kauften, nutzten diese häufig für eine Spritztour auf der Autobahn. Für diemeisten ist dies der einzige Ort, wo sie auf legale Weise die Höchstgeschwindigkeit ihrer neuen Spielzeuge austesten können. „Es ist eine Form der Freiheit“, sagte Bongers (40), der seinen eigenen Porsche 911 einmal bis auf über 300 km/h beschleunigt hat, um zu beweisen, dass er den Mut dazu hat. „Geschwindigkeit ist auf der Autobahn relativ.“ Alois Ruf, ein vornehmer, schick gekleideter Mann, der das Familienunternehmen im Jahre 1974 von seinem Vater übernommenhat, sagte, er wisse nicht genug darüber, inwiefern eine Geschwindigkeitsbegrenzung die CO2-Emission erheblich einschränken könne. Aber die Debatte darüber scheint ihm seltsam bekannt. Während der Ölkrise im Jahre 1973 wurde in Westdeutschland ein Tempolimit von 100 km/h eingeführt. Vier Monate später wurde es von der Regierung wieder aufgehoben. Ruf erinnert sich an seine Sorge in diesen schwarzen Tagen, dass das Sportwagenunternehmen der Familie möglicherweise schließen müsse. „Es geht hier um einen Traum, den wir der Welt verkaufen“, so Ruf. „Es ist eine Tradition, für die wir meiner Meinung nach kämpfen müssen.“