Wachstum aus christlicher Sicht

Wie wollen wir künftig wirtschaften?

Berlin, 8. Februar 2011 – Der Deutsche Bundestag hat eine Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften in der sozialen Marktwirtschaft“ ins Leben gerufen. Die Kommission aus Abgeordneten und Wissenschaftlern will untersuchen, wie wirtschaftliche Effizienz, gerechte Lebenschancen und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen in Einklang gebracht werden können.

Der Bundestagsabgeordnete Josef Göppel arbeitet in der Kommission mit. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise hatte er im Herbst 2008 bereits in einer Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion dazu aufgerufen, grundlegend über eine Neujustierung unserer Wirtschaftsweise nachzudenken: „Die Finanzkrise ist nicht nur ein Ausrutscher eines an sich guten Systems, sondern der Zusammenbruch eines schrankenlosen Kapitalismus, dem die Menschen nicht mehr folgen wollen. Der Vorgang kommt in seiner Bedeutung dem Zusammenbruch des Kommunismus 1990 gleich.“

Ausgehend vom Fraktionskongresses „Die Bedeutung des C für unsere Politik“ in der ersten Februarwoche 2011 setzt er nun mit folgenden Fragen Impulse für die weitere Arbeit der Enquete-Kommission:

1. Der Schöpfungsauftrag „Bebaue und bewahre“ verpflichtet Parteien mit einem christlichen Wertefundament ganz besonders zur behutsamen Nutzung der Erde.

Wie kann den natürlichen Gütern der Erde im marktwirtschaftlichen System ein Preis gegeben werden, der auch den Substanzverlust der Lagerstätten und die Folgekosten der Ressourcennutzung abbildet?

Die heutigen Marktpreise decken nur die Kosten der Förderung und Verteilung von Rohstoffen sowie die Gewinne der Handelsorganisationen ab. Der Wertverlust durch die Ausbeutung von Rohstofflagern und die Anhäufung von Abfällen geht nicht in die Wachstumsbetrachtungen ein. Der Verbrauch an Naturgütern wächst, das Kapital der Natur schrumpft.

Ist Wachstum vor diesem Hintergrund die Lösung oder das Problem?

2. Die Effizienz des Energieeinsatzes ist in den letzten Jahren gestiegen. Deshalb wuchs der Bedarf an Primärenergie etwas weniger stark als die Wirtschaftsleistung. Trotzdem nahm der Verbrauch nicht erneuerbarer Primärenergien von 1990 bis 2010 weltweit um 40 % zu.

Welche Veränderungen unseres Wirtschaftskonzepts und Wachstumsbegriffs sind nötig, um nachfolgenden Generationen noch Gestaltungsspielräume zu erhalten?

3. Auf der Realwirtschaft lastet in modernen Volkswirtschaften ein enormer Zinsdruck. Diejenigen, die real produzieren und Dienstleistungen erbringen, müssen mit ihrer Arbeit zusätzlich die Zinsen für geliehenes Kapital erwirtschaften, also teilweise für die Vermehrung fremden Vermögens arbeiten. Der Kostendruck zwingt unter anderem junge Mitarbeiter in eine extreme Mobilität, unter der Familiengründung und wertorientierte Lebensgestaltung leiden. Gleichzeitig löst sich der Finanzsektor zunehmend vom realen Wirtschaften. Weniger als 1 % der weltweiten Finanztransaktionen haben heute einen direkten realwirtschaftlichen Bezug.


Welche Veränderungen in der Finanzwirtschaft sind erforderlich, um den Menschen im System mehr Raum zu geben und das Gemeinschaftsleben zu stärken?

4. Nach den Grundsatzprogrammen der Unionsparteien ist die Leistung der Wirtschaft daran zu messen, ob sie die Bedürfnisse der Menschen mit weniger Mühsal, weniger Energie und weniger Umweltschäden erfüllen kann. Wirtschaft hat eine dienende Funktion. Wachstum an sich ist kein Ziel der Wirtschaft.

Ist der Produktivitätsfortschritt von Wachstum abhängig?

5. Gerade die ärmsten Entwicklungsländer fielen in den letzten 30 Jahren weiter zurück. Der Druck internationaler Organisationen zu vollständiger Marktöffnung und innerer Deregulierung dieser Länder führte nicht zum erhofften Ergebnis, sondern schwächte eher die Kräfte zur Selbsthilfe und zerstörte die Grundlagen der Selbstversorgung.

Ist das bisherige Konzept „weiteres Wirtschaftswachstum im Norden – aufholendes Wachstum im Süden“ noch tragfähig?

6. Selbst in der OECD stieg der Anteil der Bevölkerung, die weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens zur Verfügung hat, von 1985 bis 2005 um 10 %. In Deutschland hat das DIW die Entwicklung der realen Nettoeinkommen während der 15 Jahre von 1992 bis 2007 untersucht. Ergebnis: Bei den ärmsten 10 Prozent der Bevölkerung sanken die Nettoeinkommen in diesem Zeitraum um rund 10 %, während sie bei den wohlhabendsten 10 Prozent um 31 % stiegen.

Wie vereinbaren wir das Gerechtigkeitsgebot des christlichen Menschenbildes mit den wachsenden Einkommens- und Vermögensunterschieden?

 

Artikel vom: 08.01.2011 16:05