Auf dem Lande gut Leben

Reisebericht aus Finnland von Josef Göppel


Wie können ländliche Gebiete als attraktive Lebensräume erhalten werden? Was ist nötig, damit junge Leute dort ihre Zukunft sehen? Diese Fragen stellen sich auch in Deutschland immer dringender. Finnland musste wegen seiner dünnen Besiedlung dafür schon vor uns Lösungen finden und es hat sie gefunden. Die Erfahrungen aus dem hohen Norden Europas öffnen den Blick auf eine mögliche Zukunft unserer eigenen ländlichen Regionen. Fotos der Reise vom 6. - 10. Juni 2006 finden Sie hier.
Die finnische Politik für ländliche Räume aus der Sicht der Hauptstadt
Die Regionalentwicklung ist in Finnland dem Innenministerium zugeordnet. Der parlamentarische Staatssekretär Antti Mykkänen beginnt seine Präsentation mit einer klaren Aussage: „Alle politischen Richtungen in Finnland wollen alle Teile des Landes bewohnt halten." Die Bedingungen dafür sind gegenüber der deutschen Ausgangslage freilich ungleich schwieriger. Extreme Temperaturen und weite Entfernungen erschweren den Zugang zum Arbeitsleben und zu den elementaren öffentlichen Dienstleistungen. Finnland ist etwa so groß wie Deutschland, hat aber nur 5,3 Millionen Einwohner. Die Bevölkerungsdichte beträgt 15 Menschen pro Quadratkilometer, in ländlichen Gebieten unter 8. Die Arbeitslosigkeit in den ländlichen Gebieten liegt derzeit bei 16%. Die Beschäftigungsrate ist mit 60% dort um 10% niedriger als im Landesdurchschnitt. Ebenso wie in Deutschland ist Überalterung ein Problem. 2020 werden landesweit 30% der Menschen über 60 Jahre alt sein. Trotz seiner naturgegebenen Nachteile erreicht Finnland ein Bruttoinlandsprodukt* von 29.600 Euro je Einwohner. Deutschland liegt derzeit bei 27.300 Euro.
Wie geht nun Finnland die Erhaltung lebendiger ländlicher Räume an?
Das Wichtigste ist wohl die ausgeprägte kommunale Selbstverwaltung. Die Bürgermeister werden zwar nicht direkt gewählt, aber die Gemeinden haben erheblich mehr Aufgaben als in Deutschland. Landkreise gibt es nicht. Das europäische „Bottom-up-Prinzip", also die Entwicklung aller Projekte von unten nach oben, traf deshalb in Finnland auf gewohnte Verhaltensweisen.
Die staatlichen Aktivitäten zur ländlichen Regionalentwicklung sind seit 1985 im „Komitee für ländliche Politik" gebündelt. Vertreter von neun Ministerien und mehreren nichtstaatlichen Organisationen arbeiten dort zusammen, um die europäischen und staatlichen Programme mit den Ideen der lokalen Aktionsgruppen zu verknüpfen. Aufgabenfelder des Komitees sind: Soziale Dienstleistungen, Austausch der ländlichen Gebiete mit den Städten, Kultur, ländliche Wirtschaft, Frauen in den ländlichen Räumen und Methoden der Kontaktpflege in dünn besiedelten Landesteilen. Die ländlichen Regionen Finnlands sind komplett in lokalen Aktionsgruppen organisiert. Es gibt 58 lokale Aktionsgruppen mit durchschnittlich zwei hauptamtlich Beschäftigten. Das dichte persönliche Beziehungsgeflecht zwischen den verschiedenen politischen Ebenen war bei den Gesprächen im Innenministerium deutlich zu spüren. Auch im Parlament gibt es ein ländliches Netzwerk. Staatssekretär Antti Mykkänen war vor seiner Berufung ins Kabinett Regionalmanager in Ostfinnland.
Mykkänen zählt auch die Veränderungen im finnischen Bildungssystem zu den wichtigsten Erfolgsfaktoren. Die Dezentralisierung der Universitäten sei ein entscheidender Schritt gewesen, um neue Beschäftigung in abgelegene Gebiete zu bringen. Die Regierung habe in den 80er Jahren viel in technische Forschung investiert, ohne von vornherein zu wissen, was rauskommt. Der Gummistiefelhersteller Nokia habe sich zum Beispiel auf diese Weise zum Weltkonzern entwickeln können. In den Problemräumen des Nordens und Ostens habe man mit der Bildungsoffensive begonnen, so dass diese Gebiete einen Vorsprung bekamen. Die bestausgebildeten Leute kämen heute von dort. Ihre Schulausbildung bekommen die jungen Finnen in einem Gesamtschulsystem. Bis zur 10. Klasse sind die Kinder dort beisammen. Danach können sie das Gymnasium oder beruflich orientierte Kurse aufsetzen.
Die Direktorin des Komitees für ländliche Politik, Kaisa-Leena Lintilä, fasst die finnische Politik für ländliche Räume in drei Kernbegriffen zusammen:
Bildung
Forschung
Regionalprogramme
Nach den Gesprächen im Innenministerium Besuch im finnischen Parlament. Der Vorsitzende des Innenausschusses, Matti Väistö und drei weitere Abgeordnete stehen als Gesprächspartner zur Verfügung. Väistö zitiert eingangs die finnische Verfassung, in der eine Pflicht der öffentlichen Gewalt zur Bereitstellung ausreichender Dienste für alle Bevölkerungs- und Landesteile festgeschrieben ist. Das Verfassungsgebot, die verschiedenen Lebensumstände im Land im Gleichgewicht zu halten, sei unter allen Fraktionen unumstritten. Für die notwendigen Basisdienstleistungen seien der Staat und die Gemeinden verantwortlich. Zunehmend kämen aber auch Unternehmen ins Spiel. Gemeinden kauften sich Dienstleistungen bei privaten Unternehmen ein. In den dünn besiedelten Gebieten steige aber die Rolle des Staates, um Mindeststandards einzuhalten. Der Markt habe keine Ausgleichsfunktion, der Markt dränge auf Konzentration. Internetanschlüsse für Einzelhäuser würden aus diesem Grund subventioniert. Das Internet sei in den weit verstreuten Siedlungen eine entscheidende Voraussetzung, damit junge Leute dort wohnen bleiben. Mit berechtigtem Stolz sprechen die Abgeordneten davon, dass Finnland kurz vor der 100%-Deckung bei den Internet-Anschlüssen steht. Die Teletechnologie helfe dabei, die Arbeit dort zu tun, wo die Menschen sind. Aus diesem Grund wollen die Abgeordneten auch weitere staatliche Dienststellen aufs Land verlagern. Daneben solle die Einkommenssteuer weiterhin am Wohnort und nicht am Arbeitsort gezahlt werden. Darüber gibt es in der finnischen Öffentlichkeit offenbar eine kontroverse Diskussion.
Die Region Nordkarelien
Im finnischen Staatsgebiet bestehen 19 Regionalverbände und die autonome Region Åland. Der Regionalverband Nordkarelien umfasst 16 Gemeinden mit 168.000 Einwohnern. Er hat 50 Angestellte und ein festes Jahresbudget von 6 Millionen Euro. Dazu kommen noch Projektmittel. Die Finanzierung der Projekte geschieht in der Regel mit 50% EU-Mitteln. 20% kommen vom finnischen Staat, 15% von der Gemeinde und 30% müssen vom jeweiligen Projektträger als Eigenmittel aufgebracht werden.
Ein wichtiger Teil der Projektarbeit ist die Unterstützung von Kleinunternehmern bei der Verwertung von Erfindungen und der Entwicklung neuer Produkte.
Die Aufgaben der finnischen Regionalverbände sind umfangreicher und vor allem präziser als die deutscher regionaler Planungsverbände. Die Gemeinden müssen sich an die Beschlüsse des Regionalrats halten. Der Direktor des Regionalverbandes, Dr. Pentti Hyttinen, kommt ursprünglich aus dem Innenministerium und arbeitete einige Jahre in der EU-Kommission in Brüssel. Man spürt sofort, dass es sich hier um einen Vollprofi handelt. Das ist wohl auch der Grund für den auffallend großen Erfolg der Region Nordkarelien bei der Inanspruchnahme europäischer Programme. Natürlich gibt es auch in Karelien einen Konzentrationsprozess um die Hauptstadt Joensuu (56.000 Einwohner), doch man steuert dagegen. So gibt es einen Modellversuch, bei dem ein Arzt mit einem mobilen Gesundheitszentrum einschließlich kleinem Schnelllabor übers Land fährt. Seine Fahrtroute kann über das Internet abgefragt werden. Der Lehrstuhl ländliche Soziologie an der Universität Joensuu entwickelte darüber hinaus weitergehende Konzepte. Sie gehen von der ländlichen Tradition der Vielseitigkeit und Nachbarschaftshilfe aus. Eine Person soll mehrere Dienstleistungen gleichzeitig wahrnehmen. Das kann zum Beispiel so aussehen:
Ein Bus fährt als mobiler Einkaufsladen durch die Gemeinde. Im Bus fährt eine Krankenschwester mit, die per Internetbildschirm mit Ärzten in der Stadt in Verbindung steht. Jeder Besucher kann auf diese Weise auch selbst mit dem Arzt sprechen. Die gängigsten Medikamente hat der Bus an Bord. Eine andere Möglichkeit sind Service-Points an Tankstellen, in denen öffentliche und private Dienstleistungen kombiniert angeboten werden. Man kann dort Artikel des täglichen Bedarfs einkaufen; es steht aber auch eine Person für Kontakte zur Gemeindeverwaltung, Sozialversicherung oder anderen öffentlichen Stellen bereit. Einkaufen, Kultur, Gesundheit, dies alles geschieht am selben Platz. Die Krankenschwester aus dem Bus kann auch in diesem Treffpunkt stationiert sein, dazu Gymnastikgeräte für ältere Menschen und Internetschulungsplätze. Das Internet spielt hier überhaupt eine zentrale Rolle. In die kleinen Dorfzentren kommt der Pastor zu Gottesdiensten. Bekanntgabe und Einladung erfolgen wiederum über das Internet.
Bei der Verabschiedung weist Pentti Hyttinen die deutsche Delegation noch freundlich darauf hin, dass Nordkarelien der östlichste Punkt der europäischen Union ist und Finnland von Flugzeugen aus China und Japan über den Pol am schnellsten erreicht werden kann!
Das Dorf Jakokoski
Wir fahren von Joensuu nach Osten in Richtung russische Grenze. Als wir das Ortsschild sehen, kommt noch lange nichts. Wir biegen in einen geschotterten Waldweg ein und fahren einige Kilometer durch lichte Kiefern- und Birkenwälder. Auf einmal steht das neue Dorfgemeinschaftshaus vor uns. Es ist noch eine Baustelle. Ringsum ist nichts zu sehen. In diesem Teil Finnlands stehen die Häuser einzeln im Wald, manchmal Kilometer von einander entfernt. Die Dorfgemeinschaft Jakokoski umfasst 500 Menschen. Vor 15 Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der schweren Wirtschaftskrise Finnlands, war die Bevölkerung auf 300 Einwohner gefallen. Wie war der Wiederaufstieg in dieser Abgelegenheit möglich?
Der 75-jährige Dorfsprecher Pentti Seutu erzählt: Damals zogen die Leute weg, es gab kaum noch Kinder, die Schule stand vor der Schließung, das Dorf überalterte, die öffentlichen Dienste wurden eingeschränkt, es herrschte eine schlechte Atmosphäre. In dieser Situation gründete sich eine Dorfaktionsgruppe, die bald 50 Leute umfasste. Über ein Jahr hinweg trafen sie sich mehrmals in der Woche in einer Entwicklungswerkstatt. Ihr Motto: „Sicheren Aufschwung bringt nur das, was wir selber machen". Sie erarbeiteten einen Dorfentwicklungsplan, der sechs Punkte umfasste:
Freiwilligenarbeit organisieren
Ein Gemeinschaftshaus bauen
Bauplätze erschließen
Das Landschaftsbild pflegen
Kulturgut beleben
Das Wir-Geführ stärken
Als Finnland 1994 der Europäischen Union beitrat, gab es den nötigen finanziellen Anschub für die Eigeninitiativen. Alle Häuser bekamen Internet-Anschluss. Ein Sommertheater wurde gegründet. Die Dorfgemeinschaft kaufte ein Flussboot für kleine Kreuzfahrten. Rund ums Dorf wurde eine beleuchtete Schi-Loipe angelegt, eine Attraktion in den dunklen Wintermonaten. Eine bisher nur wissenschaftlich genutzte Sternwarte wurde der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Astronomisch interessierte Besucher kommen jetzt von weit her. Als Schlüssel zum Erfolg bezeichnet der Dorfsprecher die „Brücke zur Arbeit", eine Selbsthilfeorganisation von Arbeitslosen des Dorfes. Sie führen Auftragsarbeiten aller Art aus. Das Büro des Zusammenschlusses, halb ehrenamtlich geführt, nimmt ihnen alle amtlichen Formalitäten wie Gewerbeanmeldung, Sozialversicherung oder Steuererklärung ab und koordiniert die Einsätze. Etliche der Arbeitslosen wurden so zu Kleinunternehmern oder bekamen feste Anstellungen. Viele gemeinnützige Projekte konnten mit dieser beweglichen und hoch motivierten Truppe bis heute angepackt werden. Das Ergebnis: Der Bevölkerungsschwund ist zu Ende, das Dorf hat 200 Einwohner mehr. Die Schülerzahl wuchs von 30 auf 70, die Schule ist gesichert. Manche Gemeinden bieten jungen Familien mit Kindern kostenlose Bauplätze an, andere locken Bauwerber gar mit einem Platz am Seeufer. Das alles war in Jakokoski nicht nötig. Die Aktivierung der eigenen Kräfte und Brüsseler Anschubfinanzierungen brachten die Wende. Ein entscheidendes Detail ist dabei, dass in finnischen LEADER-Projekten die Eigenarbeit bis zur Hälfte des gesamten Arbeitskostenanteils als förderfähig anerkannt wird.
Die finnische Seele
Den Abschluss der Reise bildet ein Besuch im Nationalpark Koli , 80 Kilometer nördlich von Joensuu. Finnland ist ein flaches Land. Die Gletscher der Eiszeiten hobelten alle jüngeren Erdschichten ab. Nur die Koli-Berge aus purem Granit blieben stehen. Vom Gipfel des Ukko-Koli 250 m über dem Pielinen-See hat man genau den Ausblick, den man mit dem Traum von Finnland verbindet. Unzählige Inseln liegen wie grüne Augen in dem tiefblauen See. Jean Sibelius holte sich hier die Inspiration für seine berühmte Finlandia-Symphonie. Beim Blick über die unendlich weiten Wälder ist etwas vom Wesen Finnlands zu spüren. Der Wald ist die Urseele der Finnen. Ein Bauer in Karelien sagte uns: „Im Wald haben wir immer Sicherheit und Wärme gefunden". Ein Arzt, der lange in Helsinki arbeitete, baut ein Haus zwischen die Bäume. Sein Kommentar: „Ich bin im Wald geboren. Dorthin will ich wieder zurück". Geschichten aus dem finnischen Nationalepos Kalevala werden auf dem mythischen Felsen Ukko-Koli lebendig. Über einem tiefen Felsriss, an dem sich der Berg dem Menschen einen Spalt breit öffnet, opferten und beteten die Einheimischen über Jahrhunderte hinweg, besonders in den Zeiten der schwedischen und russischen Fremdherrschaft. Hier haben auch wir einen Wunsch frei: Möge es gelingen, die faszinierende Vielfalt aller Lebensformen in der globalen technischen Zivilisation kraftvoll zu erhalten.
*Quelle: Bruttoinlandsprodukt zu Marktpreisen, Eurostat 2005

Artikel vom: 30.08.2006 17:50