Sozial gerechte und naturverträgliche Globalisierung

Festvortrag zum 5. Triesdorfer Hochschultag am 10. Juni 2005

Die Verlockung
Eine Verheißung zieht über den Erdball: Eines Tages werden alle Menschen wohlhabend und glücklich sein. Wie kann das gehen? Alle Grenzen sollen fallen, Güter und Dienstleistungen sollen nur noch dort hergestellt werden, wo sie am günstigsten zu erbringen sind. Dadurch wird alles billiger. Der Welthandel bringt die Segnungen des Fortschritts bis in die hintersten Winkel der Erde. Wirtschaftswissenschaftler sagen, man müsse die Wirtschaft nur laufen lassen und staatliche Eingriffe zurück drängen, dann stelle sich dieser Zustand bald ein. Bis dahin müssten aber noch schwere Opfer gebracht werden,wie Senkung des Lohnniveaus, Abbau von Sozialleistungen und Beseitigung unproduktiver regionaler Versorgungsstrukturen.
Wer das vertritt? Die Anhänger des neoliberalen Wirtschaftsmodells. Ihre Stichworte heißen Deregulierung, Liberalisierung, Privatisierung und Flexibilisierung. Seit dem Ende des Kommunismus ab 1990 hat sich das neoliberale Modell rasant als weltweite Wirtschaftsdoktrin durchgesetzt. Tatsächlich hat der Untergang von Diktaturen etwas mit der globalen Verfügbarkeit von Freiheitsideen zu tun, wenn gleich das Beispiel China zeigt, dass wirtschaftliche Globalisierung nicht automatisch zur Demokratie führt. Die viel gescholtenen multinationalen Konzerne tragen mit ihren einheitlichen Produktionsstandards zweifellos zur Hebung sozialer und ökologischer Normen bei. Schließlich schuf die Globalisierung unbestreitbar auch Wohlstandsinseln mit überschäumender Konjunktur.

Die Schattenseiten
Eben da beginnen die Probleme. Eineinhalb Jahrzehnte ungeregelter Globalisierung lassen nun deren Schattenseiten unübersehbar hervortreten: Weltweit steigende Arbeitslosigkeit, Absinken des durchschnittlichen Lebensstandards, Auszehrung der Mittelschichten, Armut der öffentlichen Haushalte und Anhäufung privaten Reichtums bei wenigen. Auch in den sogenannten reichen Ländern nehmen die Einkommensunterschiede zu. Die neue Weltordnung nährt sich von immer billigerer Arbeit, vom Abbau sozialer Errungenschaften und von der ungehemmten Nutzung natürlicher Hilfsquellen. Das Kapital  genießt schrankenlose Beweglichkeit. Es wandert auf der Suche nach niedrigen Sozial- und Umweltstandards von einem Land zum andern. Menschen, die dem Reichtum nachwandern wollen, werden dagegen mit scharfen Gesetzen im Zaum gehalten. Nach dem letzten UNO-Bericht zur Lage der Menschheit wird die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer. 1960 betrug das Verhältnis zwischen dem reichsten und ärmsten Fünftel der Weltbevölkerung noch 30 : 1; jetzt liegt es bei 70 : 1. Die Globalisierung schießt über ihr Ziel hinaus. Das neoliberale Denken nimmt inzwischen alle Lebensbereiche in Beschlag: Kultur, soziale Dienste, ja sogar die Organisation des Familienlebens– alles muss im „internationalen Wettbewerb bestehen können“. Die heute geforderte bedingungslose Mobilität zehrt nicht nur an den gemeinsam verbrachten Zeiten einer Familie, sondern verhindert auch, dass die Krise der sozialen Sicherungssysteme durch familiäre Strukturen, Nachbarschaftshilfe und regionale Selbstversorgung aufgefangen werden kann. Das alles hat schon ideologiehafte Züge. Ferne Heilserwartung und Opfer auf dem Weg dorthin, das sind Merkmale eines Religionsersatzes. Spätestens hier sollten wir misstrauisch werden. Wo ist die Grenze zwischen notwendiger Entschlackung alter Strukturen und der Ausbeutung von Mensch und Natur?

Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

Nach der neoliberalen Ideologie muss man den Markt nur ungestört gewähren lassen, dann werde der Wohlstand nach unten durchsickern. „Trickle-down-Effekt“ nennt man das oder einfach „Wenn man den Pferden genug Hafer zu fressen gibt, dann fällt auch für die Spatzen etwas ab.“ Selbst der neue Weltbankchef Paul Wolfowitz musste kürzlich erkennen, dass die Realität sich nicht an solche Sprüche hält. Ohne einen ordnenden Werterahmen gibt es keinen fairen Wettbewerb, keine Gerechtigkeit und keinen Wohlstandsgewinn für alle. Ludwig Erhard hat diese Erkenntnis mit dem Konzept der sozialen Marktwirtschaft politisch umgesetzt. Erhard erkannte, dass sozialer Friede auf Dauer nur möglich ist, wenn die Erträge der Marktwirtschaft allen zugute kommen. Er warnte eindringlich vor „liberalistischem Freibeutertum“. Sein Konzept bescherte Deutschland das Wirtschaftswunder. Ende der sechziger Jahre hatte unser Land eine weitgehend ausgeglichene Vermögensverteilung, eine starke Mittelschicht und viele Kleinunternehmer. Alle lebten besser, weil Eigennutz und Gemeinwohl ausgewogen waren. Nun droht die Globalisierung das alles hinweg zu spülen. Jetzt wird von manchen gesagt, soziale Marktwirtschaft sei nur in der Wiederaufbauzeit möglich gewesen. Die Notwendigkeit von Regeln besteht aber unabhängig von der räumlichen Handlungsebene. Sie gilt für die Weltwirtschaft genauso wie für eine Volkswirtschaft. Historisch gesehen gleichen die letzten eineinhalb Jahrzehnte  dem Frühkapitalismus Mitte des 19. Jahrhunderts, als in der beginnenden Industrialisierung eine Rechtsordnung für die neue Wirtschaftsform erst erkämpft werden musste. Heute stehen wir auf globaler Ebene vor dem gleichen Ringen. Die jetzige Weltwirtschaftsordnung ist wie ein Fußballspiel, bei dem als erstes der Schiedsrichter vom Platz gestellt wird. Jede Wirtschaft braucht aber einen demokratisch legitimierten Werterahmen. Die Weltwirtschaft braucht weltweite Regeln für nachhaltiges Wirtschaften. Dazu müssen die internationalen Organisationen für Umwelt (UNEP) und Soziales(ILO) mit denselben Sanktionsmechanismen ausgestattet werden wie die Welthandelsorganisation WTO. Wir brauchen keinen Rückzug, sondern einen Siegeszug der sozialen Marktwirtschaft!
Es ist nicht gottgegeben, sondern eine krasse Fehlsteuerung, dass internationale Unternehmen ständig Leute entlassen und deswegen zweistellige Kapitalrenditen einfahren. Kapital und Arbeit sind beide nötig für dauerhaften Unternehmenserfolg. Was wir jetzt erleben, ist eine krasse Schieflage, die Verschleuderung von Leistungspotenzial und Kreativität unserer Volkswirtschaft um kurzfristiger Renditen willen. Die einseitige Bindung der Managerbezüge an die Aktienkurse hat in diesem verrutschten Denken ihre Ursache. Kaum zu glauben ist auch, dass die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland derzeit bei uns sogar noch von der Steuer abgesetzt werden kann. Wir müssen nicht auf die Welthandelsorganisation warten, um das zu ändern. Hier geht es um unsere eigene Verantwortung. Auf europäischer Ebene darf es nach meiner Meinung nicht länger sein, dass einige Mitgliedsstaaten mit konkurrenzlos niedrigen Unternehmenssteuern werben und ihre Einrichtungen der Daseinsvorsorge dann mit europäischen Strukturhilfen aufbauen.
Klimaschutz
Auch im Hinblick auf die weltweiten Klimaveränderungen brauchen wir die ökologisch weiter entwickelte soziale Marktwirtschaft. Die Menschheit verbrennt heute fünf Mal mehr Ressourcen als die Atmosphäre nachhaltig verkraften kann. Wie können wir mit 20 % des heutigen Energieverbrauchs gleich gut oder vielleicht sogar besser leben? Nicht zurück in die Steinzeit muss die Parole heißen, sondern mit verfeinerter Technik Rohstoffe und Energie besser nutzen, dem Fortschritt eine neue Richtung geben.

Neue Finanzordnung
Hierbei spielt die Finanzordnung eine wichtige Rolle. Die Globalisierung hat die Finanzen fast aller Staaten ausgeplündert. Immer mehr Wertschöpfung entzieht sich der Besteuerung durch übernationale Verflechtungen. Gleichsam auf Stelzen steigen die multinationalen Konzerne über Ländergrenzen hinweg und bilden eigene Netzwerke, auf die die territorial festgebundenen Staaten keinen Einfluss haben. Den Großteil der Steuerlast tragen heute Arbeitnehmer und Mittelständler, die Gewinne und Verluste nicht international verschieben können und andererseits mit den steuerlich kaum belasteten Produkten der Multis konkurrieren müssen. Immer lauter ertönt deshalb der Ruf nach einer Steuerquelle, die der neuen Weltsituation Rechnung trägt. So wie für Waren und Dienstleistungen Mehrwertsteuer bezahlt werden muss, so sollen künftig auch Kapitaltransaktionenan den Börsen zur Finanzierung der internationalen Entwicklungszusammenarbeit herangezogen werden. Dazu gehört auch ein emissionsabhängiges Nutzungsentgelt für den internationalen Flugverkehr. Es führt zu massiven volkswirtschaftlichen Fehlallokationen, wenn der Verkehrssektor mit den höchsten Wachstumsraten gegenüber dem Transport auf Straße und Schiene noch subventioniert wird.

Demokratische Kontrolle
Eine andere Auswirkung der ungeregelten Globalisierung trifft uns alle als Staatsbürger. Der ungeregelte globalisierte Markt untergräbt zunehmend die demokratische Kontrolle von  Entscheidungen. Multinationale Konzerne erheben sich über nationale Rechtsnormen und spielen Staaten gegeneinander aus. Konzernführer lassen Ministerpräsidenten bei Standortentscheidungen zappeln. Rentable Betriebe, wie aktuell das  AEG-Stammwerk in Nürnberg, müssen schließen, weil sie einer fernen Konzernzentrale nicht mehr ins Konzept passen. Weltweit agierende Unternehmen können ihre Interessen an den nationalen Regierungen vorbei durchsetzen. Der deprimierende Satz eines entlassenen Arbeiters gegenüber einem deutschen Ministerpräsidenten macht das deutlich: „Sie habe ich gewählt, aber Sie haben keine Macht und diejenigen, die die Macht haben, kann ich nicht abwählen.“ So kann es keine friedliche Zukunft geben!

Privatisierung
Die Privatisierung vieler öffentlicher Einrichtungen nimmt den einzelnen Bürgern darüber hinaus Mitwirkung und Einfluss. Wahlzettel und Bürgerentscheid greifen nicht mehr, wenn die Wasserversorgung oder das örtliche Altenheim von privaten Unternehmern betrieben werden. Alle Dienstleistungen, bei denen der einzelne Bürger keine echte Wahlmöglichkeit vor Ort hat und bei denen es somit keine Konkurrenz gibt, eignen sich eben nicht für eine Privatisierung. Für die Menschen in dünn besiedelten ländlichen Räumen stellt sich das Problem noch schärfer. Die privatisierte Post, die Bahn und privatisierte soziale Dienste ziehen sich immer mehr aus den ländlichen Räumen zurück. Dort wird das Angebot immer schlechter. Die Lebensqualität der Menschen sinkt. Es ist höchste Zeit, solch ideologiehafte Auswüchse der Privatisierung zu benennen. Gleichwertige Lebensbedingungen im ganzen Land, so wie es unser Grundgesetz fordert, kann es nur mit klaren Verantwortlichkeiten geben, die demokratisch kontrollierbar sind.

Handwerk und Mittelstand
Schließlich dürfen wir den Teil der Wirtschaft nicht vergessen, der regional tätig ist. Von Bundespräsident Horst Köhler stammt der Satz: „Globalisierung und Liberalisierung können unsere Wirtschaftsprobleme allein nicht lösen. Es ist falsch, das Wirtschaftsgeschehen nur als Exportgeschäft durch die Brille der Global Players zu sehen. Regionale Wirtschaftskreisläufe werden in Deutschland auch in Zukunft für den größten Teil der Menschen Arbeit und Einkommen bestimmen.“ Deshalb trete ich dafür ein, steuerliche Entlastungen auf die zu konzentrieren, die ihre Arbeitsplätze in Deutschland halten. Das gilt für den Erlass der Erbschaftssteuer in Handwerks- und Mittelstandsbetrieben oder für die zeitliche Verschiebung von Gewinn- und Verlustvortrag bei inländischer Wirtschaftstätigkeit.

Fazit
Eine menschen- und naturverträgliche Globalisierung ist möglich. Ich fasse die wichtigsten Voraussetzungen dafür noch einmal zusammen.

  • Die globale Wirtschaft braucht globale Regeln.
  • Jede Wertschöpfung muss zur Finanzierung des Gemeinwohls beitragen. Die globale Wertschöpfung internationaler Unternehmen verlangt nach einem globalen Finanzierungsinstrument.
  • Privatisierungen haben dort ihre Grenzen, wo es keine echte Wahlmöglichkeit  vor Ort gibt.
  • Mitgliedsstaaten der europäischen Union mit Steuersätzen unter dem Durchschnitt der Gemeinschaft haben kein Recht mehr, Strukturhilfen zu empfangen.

Diese Schritte zu gehen wird schwer genug und es erfordert langen Atem. Mit dem Rückzug des Staates und dem Glauben, die wirtschaftlichen Kräfte würden das Notwendige alleine bewirken, wird die Bändigung des Prozesses, den wir Globalisierung nennen, nicht gelingen. Veränderungen zum Guten gründeten in der Geschichte immer auf bewussten Wertentscheidungen, auf Ethik und Recht. Genau diese Kraftanstrengungen muss unsere Generation jetzt leisten.