Haben ländliche Regionen in der Globalisierung eine Chance?

Eröffnungsrede zum Tag der Regionen, 2.10.2004

Sturmlauf der Globalisierung

Mit dem Fall der Grenzen in Europa 1990 trat das Schlagwort Globalisierung in unser Bewusstsein. Neue technische Errungenschaften wie Faxgerät und Internet beschleunigten die Nachrichtenübermittlung derart, dass Entfernungen keine Rolle mehr spielten. Praktisch alle großen Unternehmen gründeten Zweigwerke in Amerika, China, Indien und Osteuropa. Heute haben auch 70 % der Mittelstandsfirmen bereitsTeile ihrer Produktion im Ausland.
Die deutsche Steuergesetzgebung begünstigte diesen Trend. Von 2000 bis Ende 2003 konnten Verluste bei Auslandsinvestitionen mit den Gewinnen in Deutschland verrechnet werden. Die Folge: Die Körperschaftssteuer sank auf null; 2001 musste der Staat sogar noch etwas herauszahlen. Im Moment können Auslandsverluste nur noch zu 60 % abgezogen werden, 40 % des Gewinns sind auf jeden Fall zu versteuern. Die Amerikaner gingen schärfer vor. Sie schafften die Steuerabschreibung für das sogenannte „Cross-Border-Leasing“, Leasing-Geschäfte über die Grenze hinweg, völlig ab.
Zweifellos brachte der grenzenlose Handel manche Vorteile. Ideen der Freiheit und Gerechtigkeit breiteten sich aus und Diktaturen hatten es immer schwerer, sich durchzusetzen. In manchen Bereichen der Welt wurde der Frieden durch die neuen Handelsverflechtungen sicherer.
Auf der anderen Seite vergrößerte die Globalisierung die Unterschiede zwischen arm und reich. 1990 war das reichste Fünftel der Weltbevölkerung 60 mal reicher als das ärmste Fünftel. Heute beträgt das Verhältnis 80 : 1. Vor allem in ländlichen Gebieten verloren Handwerker und Kleinbauern durch die Produktschwemme von außen ihre Existenz.
Argentinien war früher eines der größten Exportländer für Lebensmittel. Die einheimische Landwirtschaft konnte ein Vielfaches des Landesbedarfs an Getreide, Gemüse, Milch und Fleisch erzeugen. Inzwischen bauen ausländische Gesellschaften auf den fruchtbarsten Böden Sojabohnen an. Der Gewinn fließt den internationalen Agrarkonzernen zu. 160.000 Kleinbauern verloren ihre Existenz und zogen in die Armutsviertel der Städte. Inzwischen brach auch der städtische Mittelstand zusammen.
In Südostasien zogen die großen Anleger nach dem ersten Boom ihr Kapital wieder ab, so dass es zu einem Wirtschaftszusammenbruch kam, der sogar Auswirkungen auf die europäischen Börsen hatte. Löhne wurden gedrückt, soziale Rechte spielten keine Rolle und Rücksichten auf die Natur gab es nicht.
Im Himalaja schlagen internationale Holzkonzerne noch heute die Bergflanken kahl, so dass Sturzfluten das Tiefland in Bangladesch überschwemmen und jährlich Tausenden von Menschen das Leben kosten.

Regionale Gegenbewegung

Was hat das alles mit uns zu tun? Auch unsere Firmen stehen im grenzenlosen Wettbewerb und müssen sich mit Billigangeboten auseinandersetzen, die viel geringere Sozialleistungen und Umweltauflagen erfüllen müssen. Kein Wunder, dass in allen Erdteilen Regionalbewegungen entstanden sind. Sie wollen den Menschen auch in ländlichen Gebieten eine Zukunft geben, Landwirtschaft, Handwerk und Handel stärken und vor allem: Sie wollen ihre Lebensweise, ihre traditionelle Kultur und ihre Verwurzelung in der Heimat nicht aufgeben. Allein in Deutschland finden heute und morgen in 480 Orten Veranstaltungen zum Tag der Regionen statt. Sie sind ganz bewusst mit dem Erntedankfest verbunden, um zu zeigen, dass die Verwurzelung in der Religion und unserer gewachsenen Kultur auch im Internetzeitalter wichtig ist. Das nachbarschaftliche Zusammenleben umfasst viel mehr als Renditen und Geld. Auf das Zusammenhalten kommt es auch beim Einkaufen an.

  • Wer auch in 10 Jahren noch Handwerker am Ort haben will, muss ihnen jetzt Aufträge geben.
  • Wer jetzt nicht in einheimischen Geschäften kauft, muss sich in seinem Alter nicht wundern, wenn es keine mehr gibt.
  • Wer seine Geldgeschäfte nur über Internet-Banken abwickelt, trägt dazu bei, dass die Sparkassen und Raiffeisenbanken vor Ort abgezogen werden.
  • Wer auch in Zukunft gemähte Wiesen und wohl bestellte Felder sehen will, der muss hie und da im Rastmarkt, bei Bauernmärkten oder direkt bei Landwirten einkaufen.
  • Wer immer nur auswärts auf Schnäppchenjagd geht, so dass vor Ort das Wirtschaftsleben verkümmert, muss sich nicht wundern, wenn plötzlich auch sein schönes Einfamilienhaus nur noch die Hälfte wert ist.

Diese Zusammenhänge soll der Tag der Regionen bewusst machen. Er soll zeigen, was wir alles selber in der Hand haben. Ein funktionierendes regionales Beziehungsgeflecht kann viel auffangen und auch neue Chancen eröffnen. Ist es nicht bezeichnend, wenn der oberste staatliche Arbeitsvermittler vor kurzem sagte: „Am ehesten finden die eine Stelle, die in ihrem Bekanntenkreis herumfragen und jedem Hinweis nachgehen. Persönliche Beziehungsnetze bringen mehr als amtliche Anträge“. In der Zeit zurückgehender staatlicher Leistungen bekommt Nachbarschaftshilfe eine ganz neue Bedeutung.
Bundespräsident Horst Köhler, der früher Chef des Internationalen Währungsfonds war und fast alle Länder der Erde bereist hat, sagte zu diesem Thema:

  • „Es ist falsch, das Wirtschaftsgeschehen nur durch die Brille der Globalisierung zu sehen.
  • Regionale Wirtschaftskreisläufe werden auch in Zukunft für den größten Teil der Menschen Arbeit und Einkommen bestimmen.
  • Die globale Wirtschaft braucht aber auch eine globale Ethik.
  • Die Wirtschaft muss die kulturellen und historischen Traditionen aller Länder respektieren und darf sie nicht einebnen.“

Bereits 1999 gründete sich in dem Gebiet zwischen der Autobahn A 6 und der schwäbischenGrenze die Entwicklungsgesellschaft Region Hesselberg. 21 Gemeinden gehören ihr an. In den vergangenen 5 Jahren konnte sie den Zusammenhalt des ganzen Raumes deutlich verbessern und das Selbstbewusstsein stärken. Der Sprecher der 21 Gemeinden, Bürgermeister Friedrich Wörrlein aus Dentlein am Forst und die Regionalmanagerin Ute Vieting nutzten das Programm der Europäischen Union für die ländlichen Räume für zahlreiche Projekte zur Förderung des Tourismus, der Naturqualität und der kulturellen Belebung. In Arberg entstand ein Dorfladen; in Rauenzell wurden die Fundamente der ehemaligen Wallfahrtskirche freigelegt und rekonstruiert. Valorisation, Inwertsetzung des natürlichen und kulturellen Erbes nennen das die Brüsseler Kommissionsbeamten. Durch das gemeinsame Auftreten der 21 Bürgermeister bekommen die Wünsche aus diesem Raum mehr Gewicht. Nur so war es möglich,Staatsstraßen und Ortsumgehungen schneller als anderswo auszubauen.
Eingebettet in die Aktivitäten der Hesselbergregion gründete sich 2001 die Nachbarschaftsallianz der Gemeinden Leutershausen, Aurach, Herrieden und Burgoberbach, AGIL. Sie soll Kosten sparen, die Kräfte bündeln und neue Chancen für alle eröffnen. Deshalb danke ich den vier Bürgermeistern Siegfried Heß, Klaus Köhle, Alfons Brandl und Peter Schalk, den Gemeinderäten, den Gewerbeverbänden, den Firmen und all den Gruppen, die heute und morgen ihre Produkte und Ideen ausstellen. Auch den Markt Bechhofen will ich ausdrücklich erwähnen, der sich ebenfalls am Tag der Regionen beteiligt. Viel zu wenig sind wir uns bewusst, welche Vielfalt wir haben.
Ich bin auch froh darüber, dass die Eine-Welt-Vereine bei diesem Regionaltag vertreten sind. Sie zeigen, dass ländliche Räume überall auf der Welt ähnliche Probleme haben und dass regionale Bewegungen inzwischen etwas erdumfassendes sind. Regionaldenken hat nichts mit Abschottung oder Kirchturmpolitik zu tun. Es geht um die Bewahrung der Vielfalt von Lebensweisen, Wirtschaftsformen und Kulturen in allen Erdteilen. Die Regionalbewegung will die Vielfalt der Landschaften, Sprachen, Speisen und Lebensstile nicht einer gleichmachenden Einheitszivilisation opfern.



Was die Politik tun muss

Das alles können die Leute vor Ort nicht allein leisten. Die Politik auf Landes-, Bundes- und europäischer Ebene muss entschlossener handeln, um die Globalisierung menschlich und naturverträglich zu gestalten.
Zu allererst geht es um ein Steuerrecht, das dem Mittelstand das Leben nicht noch mehr erschwert.

  • Die Bundesregierung muss Betriebsübergaben erleichtern und nicht durch die Erhöhung der Erbschaftssteuer noch erschweren.
  • Das Ausschreibungswesen bedarf dringend einer Korrektur. Der mörderische Preiswettbewerb spart kein Geld, sondern schädigt die Volkswirtschaft. Oft genug gehen Firmen, die den Zuschlag bekommen haben, nach kurzer Zeit pleite. Vorher aber nehmen sie anderen alle Chancen. In der Schweiz bekommt den Auftrag der Zweitbilligste. Damit machen Dumping-Angebote um jeden Preis keinen Sinn. Zugleich erhält der Auftraggeber eine preiswerte und seriöse Leistung.
  • Wir brauchen ein Steuerrecht, das diejenigen, die im eigenen Land wirtschaften, nicht länger gegenüber international verflochtenen Unternehmen benachteiligt. Es kann nicht sein, dass Konzernführer mit ihren Familien die sozialen Leistungen, Bildungschancen und kulturellen Angebote bei uns wahrnehmen, das Unternehmen aber steuerlich so optimieren, dass für Deutschland kaum noch etwas abfällt. Dort, wo am Schluss die Wertschöpfung bleibt, muss auch die Steuer bezahlt werden!  
  • Der ungeregelte Wettbewerb muss auf internationaler Ebene einen rechtlichen Rahmen bekommen. Jetzt läuft es so ab, wie wenn bei einem Fußballspiel als erstes der Schiedsrichter vom Platz gestellt würde. Wer für den geringsten Lohn arbeitet, kommt zum Zug. Soziale Rechte gibt es kaum und Techniken zum Schutz der Umwelt auch nicht. Die internationalen Großunternehmen können Staaten gegeneinander ausspielen, indem sie Investitionen dort versprechen, wo Lohnkosten und gesetzliche Auflagen am niedrigsten sind. Die Zusammenballung wirtschaftlicher Macht ist das Gegenteil von Wettbewerb. Der Welthandel darf von Missständen nicht länger profitieren, sondern muss darauf gerichtet sein, diese zu beseitigen.

Ludwig Erhard hat 1948 in Deutschland die soziale Marktwirtschaft eingeführt. Er erkannte, dass Wohlstand für alle einen sozialen Ausgleich braucht. Die neue europäische Verfassung hat das Prinzip der sozialen Marktwirtschaft aufgegriffen. Weltweit muss es aber noch mühsam durchgesetzt werden. Wir brauchen einen weltweiten Siegeszug der sozialen Marktwirtschaft und ein internationales Kartellrecht! Die neoliberalen Wirtschaftsakteure wehren sich gegen jede Einschränkung.
Trotzdem wachsen in allen Ländern Kräfte auf, die der Monopolbildung, dem Auseinanderklaffen von Reich und Arm und der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen entgegentreten. Sie wollen die Globalisierung nicht zurückdrehen, sondern ihr ein menschliches Antlitz geben. Dazu gehören die Regionalinitiativen. Sie arbeiten an einem zentralen Punkt für dieZukunft unserer Kinder und Enkel, nämlich den Weltfrieden durch eine gerechte Ordnung zu erhalten.
Alle, die sich für die Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe und den Zusammenhalt in der näheren Heimat einsetzen, arbeiten an einer guten und wichtigen Sache - und sie sind nicht allein. Regionalinitiativen gibt es bereits in rund 150 Ländern der Erde, in den ärmsten Entwicklungsländern und in den reichsten Industrienationen. Mit einem Blick auf unsere nächste Nachbarschaft möchte ich schließen. Unsere benachbarte Region Heilbronn Franken mit den Landkreisen Schwäbisch Hall und Hohenlohe beschreibt so ihre Ziele:
Wir sind engagierte Bürger, die sich uneigennützig für die Belange der Region einsetzen.

Wir wollen:

  • das Wirgefühl in der Region Heilbronn Franken fördern,
  • deren Stärken herausstellen,
  • die Schwächen der Regionen offen benennen und gemeinsam auf Veränderung drängen und
  • allen engagierten Bürgern die Möglichkeit zur Mitarbeit bieten.

Das gilt für uns in gleicher Weise. Ich eröffne damit den Tag der Regionen 2004, danke allen, die daran mitwirken und wünsche allen Besuchern nutzbringende Kontakte, neue Einsichten und neuen Mut.