Geschlossene Gesellschaft

Politik & Kommunikation, Ausgabe 04/11, Juli/August 2011

von Florian Renneberg

Nach dem gescheiterten Parteiausschlussverfahren gegen den früheren Berliner Finanzsenator und Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin war allenthalben zu hören, die SPD brauche mehr Querdenker wie  Sarrazin. Auch Hamburgs ehemaliger Erster Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, Sarrazins Verteidiger vor der parteiinternen Schiedskommission, forderte seine Partei auf, nicht zu verschlossen gegenüber eigenwilligen Charakteren zu sein. Doch hat Sarrazin ein Manko, das er mit vielen sogenannten Querdenkern teilt: Er ist nicht in Amt und Würden.

Für aktive Politiker ist es ungleich schwerer, sich kontrovers zu äußern und klar Stellung - auch entgegen der Parteilinie - zu beziehen. Karriere und Ideale sind in der Politik nur schwer miteinander in Einklang zu bringen. Wer sich der Mehrheit in Partei und Fraktion entgegenstellt, bleibt bei der Vergabe prestigeträchtiger Posten in der Regel außen vor - nur wenige nehmen diese Nachteile bewusst in Kauf.

In seinem 2010 erschienenen Buch „Wir Abnicker" skizziert der SPD-Abgeordnete Marco Bülow die alltägliche Arbeit der Bundestagsabgeordneten. Diese kennzeichne vor allem der Fraktionszwang - ausführliche Diskussionen seien selten. „Der klassische Bundestagskandidat hat in 20 bis 30 Jahren in der Partei einen solchen Schleifprozess durchlaufen, dass kaum Quer-, Vor- und Andersdenker übrig bleiben", so Bülow.

Wunsch nach Geschlossenheit

Einer derjenigen, die übrig geblieben sind, ist Josef Göppel, seit 2002 Bundestagsabgeordneter der CSU. Im vergangenen Herbst stimmte er gegen die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke und die Gesundheitsreform der Koalition. Zur Zeit der rot-grünen Bundesregierung stimmte er als einziger Abgeordneter der Union für die Novellierung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes. In den Parteien und Fraktionen werde zu wenig um Positionen gerungen, findet er und nimmt seine Kollegen in die Pflicht: „Diejenigen, die im Mandat stehen, müssen Konturen zeigen." Für junge Abgeordnete sei das jedoch schwer, die wirtschaftliche Abhängigkeit vom politischen Mandat sei oft zu groß: „Wer direkt von der Uni in den Bundestag kommt, muss entweder 40 Jahre lang Abgeordneter bleiben oder sich mit Mitte 30 eine neue Aufgabe suchen."

Der CSU-Politiker spricht ruhig und formuliert seine Aussagen mit Bedacht. Er scheint in sich zu ruhen - und wenn es um nachhaltige Umweltpolitik und die Bewahrung der Schöpfung geht, leuchten seine Augen. Es gebe Entscheidungen, erklärt er, die man nur mit sich selbst ausmachen könne. „Natürlich ist der persönliche Weg schwerer, wenn man nicht konform ist", räumt Göppel ein. Seiner ersten Kandidatur für den Bundestag beispielsweise ging eine Kampfkandidatur im Wahlkreis voraus, die Göppel denkbar knapp gewann. 61 von 120 Delegierten konnte er für sich gewinnen.

Abgeordnete wie Josef Göppel, die - wie es das Grundgesetz vorsieht - ihrem Gewissen folgen, haben es schwer im parlamentarischen System der Bundesrepublik. In den Fraktionen herrscht der Wunsch nach Geschlossenheit, wer sich dem widersetzt, ist auf sich allein gestellt. „Abweichler werden von der Fraktionsspitze mit Liebesentzug bestraft" sagt Frank Schäffler. Der FDP-Politiker ist seit 2005 Mitglied des Bundestags, sein Thema ist die Finanzpolitik. Dieses trockene Politikfeld stand im vergangenen  Jahr  -Griechenland-Krise, Euro-Rettungsschirme, Bankenregulierung -  plötzlich im Fokus der Öffentlichkeit. Schäffler positionierte sich als liberales Gewissen einer nicht mehr ganz so liberalen Partei. Mit der Partei- und Fraktionsführung liegt er deshalb des Öfteren über Kreuz. Als einer von zwei FDP-Abgeordneten stimmte er gegen den Euro-Rettungsschirm, bei der Abstimmung über den Notkredit für Griechenland stellte er sich als Einziger gegen seine Fraktion. Vor allem auf jüngere Abgeordnete übe die Fraktionsspitze Druck aus, so Schäffler. Ins Detail will er nicht gehen: „Es ist ein subtiler Druck, aber die Methoden sind unschön."

Und sie treiben erstaunliche Blüten: Als der Bundestag 2007 über die Verlängerung der Afghanistan-Mandate Isaf und OEF entschied, war die Unzufriedenheit vieler Abgeordneter förmlich zu spüren. Hinter verschlossenen Türen wurde deutlich, wie sehr einige von ihnen an dem Einsatz zweifelten - und wie sehr sie unter Druck standen. Am Rande einer Ausschusssitzung sprachen zwei Abgeordnete der Regierungsfraktionen trotz der überwältigenden Mehrheit der Großen Koalition darüber, wie sie zumindest ein Zeichen setzen könnten. Der eine sollte gegen die Verlängerung des Isaf-Mandats stimmen, der zweite gegen den OEF-Einsatz. So wollten sie ihrem Unmut Luft machen, ohne die Fraktionsspitze zu sehr gegen sich aufzubringen. Am Ende fehlte zumindest einem der beiden der Mut: Er stimmte bei beiden Abstimmungen mit der Fraktion.

Keine gesunde Streitkultur

Um das zu verstehen, lohnt ein Blick in das Innere der Fraktionssäle. Kaum jemand spricht so offen darüber, wie es dort zugeht, wie Marco Bülow: „In den Fraktionen ist die gesunde Streitkultur weitestgehend verloren gegangen." Bülow spricht leise und besonnen. Wenn es jedoch um die Verantwortung der Abgeordneten geht, wird seine Stimme lauter und seine Gesten werden lebhafter. Seit der Veröffentlichung seines Buchs gilt er vielen als einer, der die parlamentarischen Spielregeln nicht verstanden hat. Das ärgert ihn: „Ich mache mehr Kompromisse, als dass ich meinen Kopf durchsetze. Bei neun von zehn Entscheidungen, die ich kritisch sehe, stimme ich zu." Dazu gehörten auch die Hartz-IV-Gesetze der rot-grünen Regierung. Bülow war neu im Bundestag und gehörte zu denen, die immer wieder dafür sorgten, dass die knappe Mehrheit des Kanzlers stand. „Ich bin gegen Fraktionszwang - aber ich bin für Fraktionsdisziplin, weil sie nötig ist, um Mehrheiten zu organisieren", erklärt er. Am Ende der Legislaturperiode standen dennoch vorgezogene Neuwahlen, weil Gerhard Schröder sich nicht länger auf diese Mehrheit verlassen wollte.
Die Aussprache zur Vertrauensfrage, die Schröder im Sommer 2005 verlieren wollte, um Neuwahlen herbeizuführen, war die Sternstunde von Werner Schulz. Der damalige Grünen-Abgeordnete warf dem Kanzler vor, ein „Stück Volkskammer zu inszenieren". Viele Kollegen kritisierten, Schulz sei zu weit gegangen - doch hat im Plenum des Bundestags niemand zuvor so deutlich an das Selbstverständnis der Parlamentarier appelliert. Seit zwei Jahren ist der DDR-Bürgerrechtler EU-Abgeordneter - und fühlt sich in diesem Umfeld merklich wohl: „Die politische Kultur im Europäischen Parlament ist erfrischend und belebend. Es herrscht eine lebendige Demokratie, in der die Kraft der Argumente zählt", sagt Schulz, im Bundestag könne man sich die Entscheidungen im Vorfeld ausrechnen: „Wenn Sie in der Opposition sind, können Sie die Legislaturperiode im Bett bleiben." Aber auch innerhalb der Regierungsfraktionen sei der Einfluss der Abgeordneten gering. „Die Seilschaft der Regierenden trifft die Entscheidungen oftmals in kleinsten Runden", so sein Fazit.

Keine Kompromisse

Diese Erfahrung macht derzeit auch Frank Schäffler. Strittige Fragen würden oft nicht ausreichend diskutiert - der Kurs werde stattdessen von oben vorgegeben. Von einer Ohnmacht der Abgeordneten will der FDP-Politiker jedoch nicht sprechen. „Wir können etwas bewegen - wir müssen unser Mandat allerdings dementsprechend nutzen." Im Frühjahr 2010 ist Schäffler als Obmann der FDP im Finanzausschuss zurückgetreten - er wollte den Kurs seiner Partei in der Euro-Krise nicht länger vertreten. „Die Parlamentarier dürfen sich nicht darauf reduzieren lassen, das Schlechte der Regierung positiv nach außen zu verkaufen", sagt er. Es gibt grundsätzliche Fragen, bei denen er nicht zu Kompromissen bereit ist: „Ich bin im positiven Sinne ein Überzeugungstäter."
Davon gebe es immer weniger, findet André Brie, ehemaliger Chefstratege der PDS und bis 2009 für die Linke im Europäischen Parlament: „Persönlichkeiten gehen den Parteien zunehmend verloren, stromlinienförmige Leute kommen voran." Ihm haben die Delegierten auf dem Europa-Parteitag 2009 den Wiedereinzug ins Parlament versagt. Brie hat die Tendenz der Linken zur Fundamentalopposition oft kritisiert und sich bereits in den 1990er Jahren für Bündnisse mit SPD und Grünen ausgesprochen. Im EU-Parlament hat Brie sich den anti-europäischen Reflexen seiner Partei stets widersetzt. An der Parteispitze hat er sich damit nicht nur Freunde gemacht. „In der Linken herrscht eine Sehnsucht nach ideologischer Reinheit", kritisiert er. Brie spricht offen darüber, wieviel Energie ihn die innerparteilichen Auseinandersetzungen gekostet haben: „Ich bin an die Grenzen meiner Kraft gestoßen." Vermeintliche Parteifreunde haben ihm in E-Mails „Verrat, Anbiederung an die SPD oder Kapitalismuskompatibilität" vorgeworfen. „Mittlerweile", so Brie „bin ich in der Lage, Konflikte zu suchen und auch zu schätzen".

Viele schlaflose Nächte

Dass der Druck diejenigen zerstören könne, die nicht damit umzugehen wissen, sagt auch Werner Schulz. Er selbst war jedoch nie in Gefahr, sagt er und wirbt weiterhin für die lebendige politische Auseinandersetzung: „Wer wie ich in der ehemaligen DDR Widerstand geleistet hat, ist Härteres gewohnt." Trotzdem hat Schulz während seines politischen Lebens schon viele schlaflose Nächte erlebt.

Josef Göppel hat wegen der Politik noch nie schlecht geschlafen. Im Frühjahr 2003, er war erst wenige Monate im Parlament, stimmte Göppel in der Fraktion gegen eine Erklärung, in der sich die Union im Konflikt mit dem Irak an die Seite der USA stellte. Initiatorin der Solidaritätsadresse war die damalige Oppositionsführerin - Angela Merkel. „Damals habe ich Frau Merkel das erste Mal näher kennengelernt", sagt Göppel und lacht. „Nicht nur Sie haben ein Gewissen", habe die heutige Kanzlerin ihn damals vielsagend wissen lassen. Göppel ist sich trotzdem treu geblieben. Die Kraft dafür zieht der gelernte Förster auch aus seinem Beruf: „Im Wald hat man viel Zeit zum Nachdenken und das Auge unmittelbar an der Natur. So sieht man die kleinsten Veränderungen." Wenn man Göppel fragt, ob er ein Querdenker sei, wirkt er verwundert: „Nein, ich stehe voll und ganz auf den Wertgrundlagen der Union." Und die Fraktion? „Die nicht immer."

Ein mächtiger Verbündeter

Auch Frank Schäffler weist den Begriff Querdenker von sich: „Ich vertrete konsequent die Programmatik und Grundwerte der FDP." Für diese Haltung haben ihn die Delegierten auf dem Parteitag im Mai in den Bundesvorstand der Partei gewählt.

Die Basis kann für Abweichler ein mächtiger Verbündeter sein. Josef Göppel verweist auf sein Erststimmenergebnis bei der vergangenen Bundestagswahl - es lag sieben Prozent über dem Ergebnis der CSU: „Da darf man nicht zu bescheiden sein." Auch Schäffler weiß das: „Es zahlt sich in den Ortsverbänden aus, wenn man in Berlin klare Kante zeigt - umso schwerer fällt es der Parteispitze, einen kalt zu entsorgen." Diese Aufmerksamkeit ist jedoch eine fragile Währung. „Die, die mein Buch gut finden sind nicht die, die Posten vergeben", bringt es Marco Bülow auf den Punkt. Er ist als Direktkandidat des Wahlkreises Dortmund in den Bundestag eingezogen. Der Sozialdemokrat ist sicher: „Einen guten Landeslistenplatz könnte ich vergessen."

Trotz aller Schwierigkeiten, die Querdenker in der deutschen Parteiendemokratie haben, zahlen sich ein klares Profil und Standhaftigkeit manchmal aus. „Dass die Delegierten mich für die Europawahl nominiert haben, zeigt die Toleranz und politische Bandbreite in der Partei", sagt beispielsweise
Werner Schulz. Vielleicht steht auch André Brie solch ein versöhnlicher Abschluss bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern im Herbst bevor. Auf dem Nominierungsparteitag haben die Delegierten ihn auf den aussichtsreichen Listenplatz acht gewählt.

Und Josef Göppel verweist auf Hermann Gröhe, der 2003 - wie Göppel - gegen die Irak-Erklärung der Fraktion gestimmt hat. Heute ist Gröhe Generalsekretär der CDU. „Dem hat es also nicht geschadet", sagt Göppel.