Ein neues altes Problem

Süddeutsche Zeitung vom 14. März 2011

Erst war Umweltminister Norbert Röttgen gegen die Laufzeit-Verlängerungen von Atomkraftwerken, dann dafür – jetzt holt ihn die Diskussion ein

Von M. Bauchmüller, B. Dörries und D. Brössler

Berlin – Keiner soll sagen, Norbert Röttgen habe es nicht gewusst. Die Union solle ihre Akzeptanz in der Bevölkerung "nicht an den störungsfreien Betrieb von Kernkraftwerken knüpfen“, sagte der Bundesumweltminister von der CDU vor gut einem Jahr. "Die deutschen Kernkraftwerke sind auf 40 Jahre ausgelegt. Wenn man darüber hinausgehen würde, wäre das eine Zäsur.“

Dann ging die Union darüber hinaus. Sie verlängerte das Leben des ältesten deutschen Atomkraftwerks Biblis A auf mindestens 46 Jahre und das der jüngeren Meiler auf potentiell 50 Jahre und mehr. Röttgen fügte sich – und steht jetzt vor einem doppelten Problem. Zum einen haben Union und FDP nun die komplette Atomdebatte wieder, die sie im vergangenen Jahr nur mühevoll beenden konnten. Und zum anderen steht Röttgen nun vor einem Dilemma. Denn während er in Berlin nun den Krisenmanager geben muss, könnte schon nächste Woche in Düsseldorf die Entscheidung für Neuwahlen fallen – mit Röttgen als Spitzenkandidat. Und die Havarie in Japan verspricht wahrhaftig keine guten Schlagzeilen für Röttgen.

Jetzt redet er wieder über eine "Zäsur“, diesmal ist es der GAU in Japan. Noch am Freitag, vor der vermutlichen Kernschmelze im Atomkraftwerk Fukushima, hatte das Bundesumweltministerium eine kurze, harmlose Erklärung herausgegeben: "Die deutschen Kernkraftwerke sind gegen die bei uns zu erwartenden Erdbeben ausgelegt. Die Anlagen werden bei Überschreiten bestimmter sicherheitsrelevanter Grenzwerte automatisch abgeschaltet.“ Es sollte die Deutschen in Sicherheit wiegen.

Wenn man Kanzlerin Angela Merkel richtig versteht, dann sind es lapidare Erklärungen wie diese, die nun nicht mehr gehen. Nach einem Krisentreffen im Kanzleramt am Samstag spricht sie von einem "Einschnitt für die Welt“ und davon, dass man nun nicht zur Tagesordnung übergehen könne. Und auch Röttgen spricht nun plötzlich von "Grundsatzfragen“, denen keiner mehr ausweichen dürfe.

Es sind jene Fragen, die Union und FDP eigentlich im Herbst endgültig klären wollen. Innerhalb der Union hat die Debatte am Wochenende schon begonnen. "Wir müssen die Änderung des Atomgesetzes wieder rückgängig machen“, verlangte der CSU-Politiker Josef Göppel, einer der wenigen echten Atomkritiker in der Union. Schließlich zeige die Katastrophe in Japan, welche Folgen der Ausfall von Kühlsystemen habe. "Meine Parteifreunde haben immer gesagt, so etwas kann gar nicht passieren“, sagte Göppel. Streit ist absehbar.

Im vorigen Jahr hatte die Atomdebatte vor allem die Union vor eine Zerreißprobe gestellt, rasch wurde das Thema im Herbst abgeräumt, rechtzeitig vor den sieben Landtagswahlen des Jahres 2011. Jetzt ist es wieder da, ausgerechnet vor der wichtigen Wahl in Baden-Württemberg. "Das könnte uns die entscheidenden Stimmen kosten“, sagt ein Spitzenpolitiker aus den Reihen der Union. Besonders für den Umweltminister ist die Lage misslich. Gerade erst hatte er mit der verunglückten Einführung des Ethanol-Sprits E 10 zu kämpfen. Jetzt muss er erklären, warum er erst vor dem Alter deutscher Atomkraftwerke warnte, ihre Laufzeit dann doch verlängerte und nun abermals von einer Zäsur spricht, die eine neue Bewertung erfordere. Auch SPD-Chef Sigmar Gabriel, einst selbst Umweltminister, sieht Röttgen nun in der Glaubwürdigkeitsfalle. Röttgen müsse sich fragen, wie viel er durchsetzen könne "oder ob er zurücktreten muss“.

Die Schützenhalle in Kirchveischede im Sauerland ist der höchste Ort und nach der Kirche unten im Tal auch der wichtigste. Norbert Röttgen hält hier zwei Tage vor dem Erdbeben in Japan eine Rede zum politischen Aschermittwoch, nach der man das Gefühl hat, dass er jetzt wirklich Neuwahlen will in Nordrhein-Westfalen. "Hannelore Kraft hat sich die Krone als Schuldenkönigin aufgesetzt“, sagt er. "Über diesen Titel können wir gern Wahlkampf führen.“ Die 700 Anwesenden klatschen und machen den Eindruck, als hielten sie es für eine gute Idee, möglichst bald zu Neuwahlen zu kommen. Sie haben wohl das Gefühl, jetzt einen Landesvorsitzenden zu haben, der nach einem Vierteljahr auch bei ihnen angekommen ist.

Davor hatte es lange so ausgesehen, als versuche Röttgen, die nächste Wahl vor allem mit der eigenen Karriereplanung abzustimmen. Am Donnerstag trifft sich Röttgen mit Journalisten in einem Düsseldorfer Café, der Raum ist überfüllt, so als hätte die CDU gar nicht mit so viel Interesse gerechnet. Der Landesvorsitzende muss stehen, es gibt keinen Stuhl mehr für ihn. Röttgen gefällt diese Situation aber offenbar ganz gut, er tänzelt umher und beantwortet Fragen: Haushalt, Verfassungsgericht, Schuldengrenze. Das ist eine spröde Angelegenheit, es geht letztlich aber um ein Thema, das in der CDU bereits als "Gottesgeschenk“ gesehen wird für einen Landtagswahlkampf: Die Schuldenkönigin gegen den Nachhaltigkeitsfanatiker Röttgen, so würde das Duell aus CDU-Sicht lauten.

Schon einen Tag später schaut die Welt auf Japan, und es tritt das ein, was die innerparteilichen Gegner von Röttgen in Nordrhein-Westfalen immer gesagt haben: Dass es nicht geht, gleichzeitig Umweltminister zu sein und Spitzenkandidat. Hier hat man noch deutlich das Beispiel von Norbert Blüm in Erinnerung, der landespolitisch nie ein Bein auf den Boden bekam, weil ihm die SPD letztlich immer entgegenhielt: Bring du doch erst mal deine Rente in Ordnung. Norbert Röttgen muss noch ganz anderes in Ordnung bringen.

In Berlin wird er sich schon von diesem Montag an wieder mit einer Atomdebatte herumschlagen müssen, die erledigt zu sein schien. Und in Düsseldorf wird der Verfassungsgerichtshof wohl den Haushalt zerpflücken. Eigentlich könnte es Röttgens Stunde sein, er könnte SPD und Grüne im Land vor sich hertreiben. Stattdessen bleibt er ein Minister in Erklärungsnot; mit Grundsatzfragen, die er selbst noch nicht so genau kennt – geschweige denn die Antworten.

Der CDU-Politiker muss in Berlin der Krisenmanager und in Düsseldorf der Wahlkämpfer sein.