Anlauf zur Kehrtwende

Süddeutsche Zeitung vom 15. März 2011

In der Parteispitze der CSU wird die Laufzeitverlängerung offen in Frage gestellt – der Koalitionspartner FDP tut sich noch schwer

Von Katja Auer, Christian Sebald und Mike Szymanski

München – In der CSU vollzieht sich offenbar eine Wende in der Energiepolitik. Als Reaktion auf die Katastrophen in japanischen Atomanlagen wird der Wunsch nach einem früheren Ausstieg aus der Kernenergie nicht nur an der Basis immer lauter formuliert. Mehrere Vorstandsmitglieder stellen offen die – auch auf Drängen Bayerns – 2010 vereinbarten Laufzeitverlängerungen in Frage. Als erster hatte Umweltminister Markus Söder (CSU) im SZ-Interview erkennen lassen, dass die Störfälle in Japan zum Kurswechsel führen könnten: "Japan verändert alles“, sagte Söder. Nach Teilnehmerangaben schlug er im CSU-Präsidium am Montag vor, den pannenanfälligen Alt-Reaktor Isar 1 dauerhaft vom Netz zu nehmen. Söder kündigte für Donnerstag eine Regierungserklärung im Landtag an.

Josef Göppel, Bundestagsabgeordneter und Leiter des Arbeitskreises Umwelt der CSU, fordert seine Partei eindringlich auf, zur alten Ausstiegsvereinbarung der rot-grünen Bundesregierung zurückzukehren. "Japan zeigt, dass die bisher als unumstößlich gehandelte Gewissheit nicht gilt, wonach die Kühlsysteme in Atomkraftwerken nicht ausfallen können.“ Er hatte als einziger Bundestagsabgeordneter der CSU gegen die Laufzeitverlängerungen gestimmt und war damit Außenseiter in der Landesgruppe. Auch die konservative Bevölkerung vertraue den permanenten Beteuerungen nicht länger, wonach die Atomanlagen in Deutschland sicher seien.

Was die ältesten und unsichersten Atommeiler wie Isar 1 anbelangt, fordert Göppel die sofortige Abschaltung. "Und die jüngeren und moderneren Anlagen sollten bis 2025 vom Netz gehen, so wie das Rot-Grün mit den Energiekonzernen vereinbart hat“, sagt Göppel. "Wenn es der rasante Zubau an erneuerbaren Energien zulässt, sollte man sie sogar noch sehr viel rascher abstellen.“ Auch das CSU-Vorstandsmitglied Markus Ferber, Parteivorsitzender im Bezirk Schwaben, wo das Atomkraftwerk Gundremmingen steht, setzt sich auch von der bisherigen Parteilinie ab. "Es ist jetzt der richtige Zeitpunkt, über die Nutzung der Kernenergie noch einmal nachzudenken“, sagt er und führt aus: "Vielleicht auch mit dem Ergebnis, dass wir eine Reihe von Blöcken früher abstellen.“

Justizministerin und CSU-Vize Beate Merk sagt: "Die Katastrophe zwingt uns, alle bisher getroffenen Entscheidungen noch einmal zu diskutieren – mit offenem Ausgang.“ Sie spricht von stark verunsicherten Bürgern. "Es ist gerade schwierig, mit Fakten zu argumentieren, aber das muss Politik jetzt leisten.“

Auch Ilse Aigner, die designierte Vorsitzende der oberbayerischen CSU und Bundesagrarministerin, geht auf Distanz zur Atomenergie – wenn auch vorsichtig. "Wir müssen die Sicherheitssysteme aller deutscher Reaktoren auf den Prüfstand stellen“, sagt sie. "Sollte sich herausstellen, dass Risiken, die in Deutschland bisher als beherrschbar galten, im Extremfall nicht beherrschbar sind, müssen wir Konsequenzen ziehen. Die Sicherheit von Atomanlagen hat immer Vorrang vor energiepolitischen Zielen und wirtschaftlichen Interessen.“ Ex-Parteichef Erwin Huber hingegen steht zu den Laufzeitverlängerungen. "Die Situation in Japan ist nicht einfach auf Deutschland übertragbar“, sagt der frühere Wirtschaftsminister, "nach unseren Standards hätten die Reaktoren dort nie gebaut werden dürfen.“ Die Atompolitik hat in der CSU seit jeher einen besonderen Stellenwert.

Das bayerische Kabinett befasst sich am Mittwoch mit möglichen Konsequenzen aus der Atomkatastrophe in Japan. Regierungschef Horst Seehofer hat die ursprünglich für Dienstag geplante Sitzung verschieben müssen, weil Kanzlerin Angela Merkel sich an diesem Tag mit den Länderchefs beraten möchte. Die FDP in Bayern ist gegen einen abrupten Atomausstieg. Ihr Wirtschaftsminister Martin Zeil sagt: "Ein sofortiger Verzicht auf die Kernenergie ist für einen rohstoffarmen Industriestandort wie Bayern nicht möglich.“ Der liberale Landtagsabgeordnete Tobias Thalhammer hält es aber für wahrscheinlich, dass der Altreaktor Isar I bei Landshut einer erneuten Sicherheitsüberprüfung nicht standhalten werde. Die Vereinigung der bayerischen Wirtschaft warnt bereits vor Versorgungslücken, sollten die Atomkraftwerke früher abgeschaltet werden.