Tiefe Verunsicherung

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.09.2005

München - Ein schmerzhafter Prozess der Introspektion hat bei der CSU am Tag nach der Wahl begonnen. Nach außen, gegenüber der Öffentlichkeit, wurde zwar versucht, Stärke zu demonstrieren, mit den erprobten Vokabeln, dass die CSU der Stabilitätsanker der Union sei. Doch im Inneren der Partei machte sich tiefe Verunsicherung breit, nicht nur wegen der ungewissen Perspektiven in Berlin; der Blick richtete sich auch sorgenvoll auf Bayern und die nächste Landtagswahl im Jahr 2008.
Denn die Fünfzig-Prozent-Grenze, welche die CSU bei der Bundestagswahl unterschritten hat, ist für die Partei keine beliebige Zahlengröße. Sie hat einen symbolischen Wert mit beträchtlichem politischen Nutzen; sie hat es der CSU bislang ermöglicht, sich als eine Art Volksbewegung zu präsentieren, die mehr als eine beliebige politische Partei ist. Bis zum Wahlsonntag war die CSU seit 1957 bei Bundestagswahlen nur einmal unter die Fünfzig-Prozent-Marke gerutscht – 1998 bei der Abwahl der Regierung Kohl.
Die erfolgreiche Werbung der FDP um Zweitstimmen habe die CSU zurückgeworfen, lautete ein gängiges Erklärungsmuster, das etwa Innenminister Beckstein bemühte. Doch in der zweiten und dritten Reihe der Partei wurde begonnen, tiefer zu graben, nicht zum Gefallen der Stoiberisten in der CSU. Sie sahen, nicht ohne Grund, die Gefahr, dass der Wahlausgang manche Selbstverständlichkeiten in Frage stellen könnte – etwa, dass die Staatskanzlei Stoibers unangefochten als Steuerungsinstanz für Regierung und Partei fungiert.
Den Reigen der Kritiker eröffnete die stellvertretende Parteivorsitzende Stamm mit einer für die CSU schon fast revolutionären Feststellung: Es könne nicht sein, dass einige wenige über die Strategien entschieden „und die anderen dann Solidarität zu üben haben“. In der CSU müsse wieder intensiver diskutiert und eine breitere Basis angestrebt werden, forderte Stamm, die in den vergangenen Jahren oft den Schulterschluss mit Stoiber gesucht hatte, obwohl sie wegen der Turbulenzen um die Rinderkrankheit BSE aus seinem Kabinett hatte ausscheiden müssen.
Andere CSU-Politiker, die nicht namentlich genannt werden wollten, wurden noch konkreter; sie führten das Rutschen unter die Fünfzig-Prozent-Marke auch auf die Rigorosität zurück, mit der Stoiber seinen in der Staatskanzlei konzipierten Modernisierungs- und Sparkurs dem Land aufgedrückt habe. Allein mit bundespolitischen Gründen sei nicht zu erklären, dass sich die Partei mit einer Vier an der ersten Stelle ihres Ergebnisses begnügen müsse; Stoiber habe in Bayern den Reformbogen überspannt.
Die Lage Stoibers als Führungsfigur wird in der CSU an Stabilität einbüßen, zumal ihn das Wahlergebnis zu einem riskanten Manöver zwingt – zu einer Öffnung der CSU gegenüber den Grünen. Bislang waren in der CSU Überlegungen, mit den Grünen zu kooperieren, Sache einiger weniger Politiker gewesen.
Nunmehr wurde am Montag ein Papier des CSU-Abgeordneten Göppel , überschrieben mit „Plädoyer für Schwarz-Gelb-Grün“, eifrig studiert. Penibel führte der Umweltpolitiker darin „schwarz-grüne Gemeinsamkeiten“ auf, angefangen bei einer Betonung von Dezentralität und Subsidiarität über die Wertschätzung regionaler Identitäten bis zu Vorbehalten gegen therapeutisches Klonen. „Gänzlich neue Synergieeffekte“ und einen „geringeren Einfluss der Gewerkschaftsfunktionäre“ versprach sich Göppel – und in diese Tonlage stimmten andere CSU-Politiker wie Umweltminister Schnappauf und der Europa-Abgeordnete Posselt ein.
Stoiber gebrauchte am Montag vorsichtige Formulierungen zu einer schwarz-grünen Option; der SPD dürfe kein Vorwand geliefert werden, eine Tolerierung einer Schröder-Regierung durch die Linkspartei anzustreben. Und er sprach von enormen Schwierigkeiten, zwischen der Union und den Grünen Schnittmengen zu finden. Es war gleichsam mit Händen zu greifen, wie schwer es Stoiber fiel, die Pforte zu einer Öffnung aufzustoßen, mit der für die CSU ein zeitlicher Horizont eröffnet wird, der über Stoiber hinausweist.