Die ewig Zukünftigen - Kritik an der Agenda 2010

Abzug aus DIE ZEIT vom 12.06.03

Von Fritz Vorholz
Viele – jung und alt, grün, rot oder gar schwarz – treibt das ungute Gefühl, die Regierung verpasse gerade die einmalige Chance, die Sanierung der Staatsfinanzen und der Sozialsysteme mit der ökologischen Modernisierung des Landes zu verknüpfen. Die heimliche Koalition der Zweifler reicht von dem umweltbeseelten SPD-Parlamentarier Ernst Ulrich von Weizsäcker über den grünen Querdenker Winfried Hermann bis hin zu Wolfgang Schäuble, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Unionsfraktion. Selbst in den Reihen der bayerischen Konservativen regt sich Unmut. Die fehlende ökologische Orientierung ihres Reformprogramms sei die „offene Flanke der Regierung“, sagt Josef Göppel, Förster und CSU-Bundestagsabgeordneter aus dem fränkischen Herrieden.
Dabei hatte sich bereits vor Wochen eine Gruppe von 32 grünen Mandatsträgern – unter ihnen die nordrhein-westfälische Umweltministerin Bärbel Höhn und Reinhard Loske, der stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion – auf sieben Thesen samt zehnseitiger Begründung geeinigt, in der sie Partei und Regierung vor „richtungsloser Wachstumsorientierung“ warnen. Stattdessen soll nach Auffassung der grünen Querdenker mehr Umweltschutz die notwendigen neuen Jobs schaffen, die Sanierung der Sozialsysteme befördern und dazu beitragen, die maroden Staatsfinanzen wieder ins Lot zu bringen.
Tatsächlich greift das Bemühen der Reformertruppe um Schröder, die betrieblichen Personalkosten zu senken, zu kurz. Laut amtlicher Statistik machen Löhne und Lohnnebenkosten nicht einmal 22 Prozent der Gesamtkosten von Industriebetrieben aus. Ein anderer Posten schlägt viel stärker zu Buche: der Energie- und Materialverbrauch mit 41,5 Prozent. Einsparungen beim Ressourcenverbrauch entlasten die Betriebe mithin fast doppelt so stark wie um den gleichen Prozentsatz sinkende Personalkosten. Als das Bundeskabinett vor 14 Monaten die nationale Nachhaltigkeitsstrategie verabschiedete, hieß es denn auch noch, dass mehr Effizienz beim Verbrauch von Rohstoffen und Energie nicht nur ein Gebot „der ökologischen, sondern auch der ökonomischen Vernunft“ sei. In der Agenda 2010 fehlt indes jeder Hinweis auf die „Effizienzrevolution“, ohne die sich „sowohl Umweltzerstörung als auch Arbeitslosigkeit zuspitzen“ werden, wie der SPD-Fraktionsvize Michael Müller immer wieder predigt. Erhört wurde er bisher nicht.
Das ist freilich nicht das einzige Manko, das die grün gesinnte Gemeinde verärgert. Laut OECD sind mehr als 35 Prozent der vom Bund gewährten Subventionen „potenziell kontraproduktiv, was ihren ökologischen Nutzen angeht“. Dennoch und obwohl Finanzminister Hans Eichel damit bei seinem Bemühen um Haushaltskonsolidierung geholfen wäre, fehlt in der Agenda 2010 jeder Hinweis zum Subventionsabbau – geschweige denn zum vorrangigen Kürzen besonders umweltschädlicher Begünstigungen wie der Steinkohleförderung oder der Mehrwertsteuerfreiheit von Auslandsflügen. Nicht einmal der grüne Parteirat wollte sich Anfang vergangener Woche dazu durchringen, eine von vier Spitzengrünen präsentierte Subventionsstreichliste formell zu beschließen. Ganz zu schweigen von Schröder und Clement: Der bekannte gerade – von wegen „Neues wagen“, wie der Kanzler gern verspricht -, sogar über das magische Jahr 2010 hinaus den hoffnungslos unwirtschaftlichen Steinkohlebergbau mit Steuergeld fördern zu wollen.
Immer mehr Beobachter des rot-grünen Reformtreibens fragen sich, warum die Regierung das Land wider besseres Wissen mit unvollständigen Rezepten in Schwung bringen will – statt aus der Not eine Tugend zu machen. Konrad Ott, Philosophieprofessor aus Greifswald und Mitglied des Umwelt-Sachverständigenrates, rät den Regierenden beispielsweise, die Sparzwänge „auf innovative Weise“ mit der Nachhaltigkeitsstrategie zu kombinieren. Auf den Prüfstand gehörten unter anderem der Bundesverkehrswegeplan und der Transrapid. Zwei ökologisch gesinnte Ökonomenvereine sammeln dieser Tage Unterschriften für ihre „Heidelberger Erklärung“; darin fordern sie, Nachhaltigkeit endlich „auch in der Praxis voranzubringen“. Selbst Wolfgang Schäuble führt die Regierung vor: Es sei doch „fast schon paradox, wie sehr ökologische Gedanken in den Hintergrund getreten sind“, sagt der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion.
Unter den grün Gesinnten jeglicher parteipolitischer Couleur ist die Verzweiflung mittlerweile groß. Ende Juli will sich deshalb ein Teil der Unzufriedenen in einem bayerischen Wasserschloss versammeln. Einziges Thema: wie der Politik vielleicht doch noch eine ökologische Perspektive verpasst werden könnte. Sozialdemokraten, Grüne und Unionspolitiker wollen sich darüber austauschen, dazu Aktivisten und die Chefs der obersten Umwelt- und Naturschutzbehörden. „Wir haben Öko-Gutachten ohne Ende, aber in der Praxis tut sich gar nichts mehr“, klagt einer der Organisatoren des Treffens.
Mehr Umweltschutz, mehr Arbeitsplätze und weniger Krisengejammer – manche Erfahrung spricht für die Forderungen der grün beseelten Drängler. Die Förderung von Strom aus Wind und Sonne hat nach Angaben der Unternehmensberatung Murphy & Spitz 130.000 Jobs geschaffen. Die Ökosteuer sei besser als ihr Ruf und müsse weiter entwickelt werden, erklärte neulich Norbert Walter, der Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Und selbst Geschäftsführer von Handwerkskammern wie Jans-Paul Ernsting aus Hannover bekennen sich längst zum Umwelt- und zum Klimaschutz – weil sie sich davon Aufträge versprechen.
Auch Schröder, meinen seine Kritiker, hätte eine Sorge weniger, zeigte er mehr Verständnis für ihre Vorschläge. Seine Agenda verursacht schließlich Schmerzen – die besser auszuhalten wären, wären sie mit der Vision einer besseren Zukunft verbunden.